Die Moderne dezentral gedacht:
Polen als Fallstudie
und Szczepan Wierzchosławski
Einleitende Bemerkungen
Agnieszka Pufelska und Matthias Barelkowski: Einleitende Bemerkungen
Moderne als verflochtene Geschichte
Moderne oder Modernisierung, verstanden als Übergang von einer traditionalen Form von Gesellschaft oder Kultur hin zu moderneren Formen, etwa der Industriegesellschaft, zu Demokratisierung, Verstädterung, sozialer Differenzierung, Individualisierung, Bürokratisierung oder Globalisierung, gehört zu den schillerndsten und zugleich problematischsten Begriffen der Geschichts- und Kulturwissenschaften. In ihr bündeln sich Vorstellungen von Fortschritt, Vernunft, Industrialisierung und gesellschaftlicher Transformation. Doch die Moderne ist nicht einfach eine neutrale analytische Kategorie, sondern immer auch eine normative Setzung. Sie erzeugt Maßstäbe, an denen Gesellschaften gemessen werden, und schreibt Unterschiede fest. Schon seit der Aufklärung gilt der Westen als Verkörperung der Moderne, während andere Regionen – ob Asien, Afrika oder Osteuropa – als nachholend, verspätet oder rückständig beschrieben wurden. Damit erfüllt die Moderne nicht nur die Funktion, historische Entwicklungen zu beschreiben, sondern auch, Macht und Herrschaft symbolisch zu legitimieren.
Die Kritik am eurozentrischen Modernebegriff hat deshalb in den letzten Jahrzehnten stark an Gewicht gewonnen. Konzepte wie Shmuel N. Eisenstadts „multiple modernities“ versuchen, Moderne nicht länger als eine einzige, vom Westen ausgehende Entwicklungslinie zu denken, sondern als ein Feld unterschiedlicher, jeweils kulturell geprägter Modernisierungswege. Doch auch diese Konzepte bleiben ambivalent, denn sie tendieren dazu, Kulturen als geschlossene Einheiten zu beschreiben und übersehen die dichten Verflechtungen, in denen Moderne tatsächlich entstand. Im Falle Ostmitteleuropas zeigt sich besonders deutlich, dass Modernisierung immer ein Prozess von Austausch, Aneignung und Anpassung war – kein isolierter Sonderweg, aber auch keine bloße Kopie westlicher Modelle.
Ostmitteleuropa zwischen Zentrum und Peripherie
Die Marginalisierung Ostmitteleuropas im Modernediskurs hat eine lange Geschichte. Schon im 18. Jahrhundert setzte sich ein Wahrnehmungsmuster durch, das die Gegenwart des Westens zur Zukunft des Ostens erklärte. Seither wurde Osteuropa auf einer Skala von Fortschritt und Rückständigkeit verortet, die unausweichlich zu seiner Peripherisierung führte. Michael G. Müller hat den Begriff der „Rückständigkeit“ als Schlüssel der westlichen Selbstdefinition hervorgehoben. Gerade im 20. Jahrhundert, angesichts des Ost-West-Konflikts, diente diese Zuschreibung der Stabilisierung westlicher Identität.
Die Geschichtsschreibung reproduzierte solche Muster über Jahrhunderte hinweg. Die deutsche Ostexpansion wurde als „Zivilisierungsmission“ beschrieben, die Habsburger Monarchie als dysfunktionaler Vielvölkerstaat, und Polen erschien als strukturell unfähig, eine moderne Staatlichkeit zu entwickeln. Solche Deutungen übersehen jedoch, dass Modernisierung in Ostmitteleuropa keineswegs ausblieb, sondern andere Formen annahm. Dennoch blieb der postkoloniale Diskurs, der asymmetrische Machtverhältnisse in globaler Perspektive analysierte, merkwürdig blind für diese innereuropäische Dimension.
Gerade Polen bietet ein Beispiel dafür, wie stark Modernisierung in Ostmitteleuropa von Brüchen, Anpassungen und Widersprüchen geprägt war. In drei großen Phasen – der Teilungszeit, der Zwischenkriegszeit und der Epoche nach 1945 – entwickelte sich eine jeweils spezifische Form der Moderne, die zwar mit westlichen Entwicklungen verflochten war, aber eigene Dynamiken entfaltete.
Teilungszeit: Lernen im Schatten der Fremdherrschaft
Die Zeit der Teilungen Polens (1795–1918) wurde lange fast ausschließlich als Epoche nationaler Niederlagen nach gescheiterten Aufständen erzählt. Das Fehlen staatlicher Unabhängigkeit wurde als Stillstand gedeutet, als Phase, in der Polen lediglich Opfer äußerer Mächte war. Eine kritischere Perspektive zeigt jedoch, dass die Teilungszeit keineswegs nur Verlust bedeutete, sondern auch erzwungene, teils erfolgreiche Lernprozesse ermöglichte.
Die drei Teilungsmächte – Preußen, Russland und Österreich – verfolgten jeweils eigene Reform- und Modernisierungsprojekte. Die preußischen Agrarreformen, die Habsburger Bildungspolitik oder die russischen Infrastrukturprojekte wirkten tief in die polnische Gesellschaft hinein. Polnische Eliten und Bevölkerungsgruppen reagierten darauf nicht nur passiv, sondern adaptierten und transformierten die angebotenen Modelle für ihre Bedürfnisse. Auf diese Weise bildete sich trotz Fremdherrschaft eine moderne polnische Nation heraus, die sich über Bildung, berufliche Differenzierung und kulturelle Selbstbehauptung konstituierte.
Die Vorstellung, die Teilungszeit sei bloß eine „Schule der Niederlagen“, greift daher zu kurz. Vielmehr war sie eine Phase komplexer Transformationen, in der Polen lernte, mit Fremdherrschaft umzugehen und sie produktiv zu wenden. Moderne entstand hier nicht als selbstbestimmtes Projekt, sondern im Spannungsfeld von Abhängigkeiten und Eigeninitiative – ein Muster, das die polnische Geschichte immer wieder prägen sollte.
Zwischenkriegszeit: Inseln der Moderne
Mit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1918 verband sich die Hoffnung auf eine eigenständige, umfassende Modernisierung. Doch die Zweite Polnische Republik sah sich enormen Herausforderungen gegenüber: ökonomische Rückstände, ethnische Heterogenität, instabile Grenzen und eine fragile politische Ordnung. Unter diesen Bedingungen verlief die Modernisierung nicht als linearer Prozess, sondern als Flickenteppich partieller Fortschritte.
Wirtschaftlich brachten Infrastrukturprojekte wie das Zentrale Industriegebiet und eine zeitweise erfolgreiche Währungsstabilisierung Fortschritte. Doch diese Erfolge blieben regional begrenzt und litten unter der Weltwirtschaftskrise. Die soziale Modernisierung zeigte sich in wachsender Urbanisierung, in neuen Bildungszugängen und in der Populärkultur, die breite Schichten erfasste. Gleichzeitig blieb das Land von enormen sozialen Gegensätzen geprägt: Während in den Städten kulturelle Avantgarden aufblühten, verharrten große Teile der ländlichen Bevölkerung in traditionellen Strukturen.
So entstand eine „Modernisierungslandschaft mit Inseln“: Fortschritt und Rückständigkeit existierten nebeneinander, ohne sich zu einer durchgehenden Transformation zu verbinden. Die politische Instabilität, die autoritären Tendenzen nach dem Piłsudski-Putsch und ungelöste Nationalitätenkonflikte verstärkten diese Ambivalenz. Die Zwischenkriegszeit erscheint so als Phase des Aufbruchs, der durch strukturelle Begrenzungen gebremst und letztlich durch den Zweiten Weltkrieg brutal beendet wurde.
Nach 1945: Sozialistische Modernisierung und ihre Ambivalenzen
Nach 1945 setzte die kommunistische Herrschaft auf eine umfassende, von oben gesteuerte Modernisierung. Industrialisierung, Elektrifizierung, Urbanisierung und der Ausbau des Bildungswesens sollten Polen in kurzer Zeit in ein modernes Industrieland verwandeln. In vieler Hinsicht gelang dieser Versuch: der Analphabetismus wurde fast vollständig beseitigt, soziale Mobilität nahm zu, die Infrastruktur wurde massiv ausgebaut. Viele Städte erlebten eine bis dahin unbekannte Dynamik und große Teile der Bevölkerung erhielten erstmals Zugang zu bisher als unerreichbar geltenden Lebensweisen – Massenkonsum, Massentourismus und Massenmedien begannen ihren Siegeszug auch in Polen.
Doch diese Erfolge waren eng mit politischen und ideologischen Zwängen verbunden. Die Kollektivierung der Landwirtschaft, die Ausschaltung lokaler Selbstverwaltung und die Repression gegen oppositionelle Stimmen begrenzten die Freiräume. Der Fortschritt war real, aber er wurde von einem autoritär-zentralistischen Staat vereinnahmt und zur Legitimation der Herrschaft der kommunistischen Partei instrumentalisiert. Modernisierung ging hier Hand in Hand mit Kontrolle und ideologischer Überformung. Die eigenen Versprechungen, insbesondere im Konsumbereich, konnte so nicht erfüllt werden.
Im Rückblick zeigt sich, dass diese Phase trotz ihrer Ambivalenz langfristige Wirkungen hatte. Die Verbreitung von Bildung, Infrastruktur und sozialen Standards bildete ein Fundament, auf dem auch nach 1989 aufgebaut werden konnte. Zugleich bleibt die Erinnerung an die Modernisierung der Volksrepublik Polen untrennbar mit der Erfahrung politischer Unfreiheit und ökonomischer Fehlsteuerungen verbunden.
Schlussbemerkungen:
Die drei Phasen der polnischen Moderne verdeutlichen, wie irreführend der westliche Idealtypus einer linearen, universalen Modernisierung ist. Moderne in Ostmitteleuropa war nie bloß Defizit, aber auch nie bloß Nachahmung. Sie war ein Prozess voller Brüche, Anpassungen und Ambivalenzen, geprägt von Fremdherrschaft, katholischer Tradition, staatlicher Steuerung und gesellschaftlicher Kreativität.
Wer Moderne verstehen will, darf sie nicht von einem Zentrum aus definieren, sondern muss sie als verflochtenen Prozess begreifen, in dem verschiedene Regionen in je eigener Weise auf gemeinsame Herausforderungen reagierten. Damit wird nicht nur Osteuropa aus der Position des „Nachzüglers“ befreit, sondern zugleich die europäische Geschichte insgesamt pluraler, komplexer und realistischer erzählt.
Das Thema Modernisierung ist in den polnischen Kultur- und Sozialwissenschaften durchaus umstritten. Viele Sparten in diesem Bereich sind empirisch keineswegs vollständig ausgeleuchtet. Die vom IKGN erstmalig in deutscher Übersetzung präsentierten Beiträge sollen die polnische Fachdiskussion auch hierzulande nachvollziehbar machen und zu weiteren Beiträgen anregen oder, um es mit den Worten des polnischen Soziologen Marcin Kula auszudrücken: „Notwendig ist eine Diskussion, deren Beteiligte zur Kenntnis nehmen, dass man einen Mittelweg suchen sollte; einerseits kann man nicht in einem Freilichtmuseum leben, andererseits wäre es sicher unangenehm, in einer völlig vereinheitlichten und sterilen Welt leben zu müssen.“
Ausgewählt wurden dafür drei Beiträge. Im ersten Beitrag von Szczepan Wierzchosławski mit dem Titel „Zabory ziem polskich – geneza polskiej nowoczesności“ wird ein Überblick über die Modernisierungen und deren Hindernisse während der Teilungszeit gegeben. Der Autor vertritt nachdrücklich die These, dass in der polnischen Historiographie viel zu sehr die einzelnen Aufstände gegen die Teilungsmächte und deren Niederschlagung dargestellt werden, während die Ausnutzung und Adaption von Reformen der Teilungsmächte für die eigenen Bedürfnisse zu wenig berücksichtigt werden.
Paweł Grata beschäftigt sich im zweiten Beitrag „Modernizacja gospodarcza i społeczna II Rzeczypospolitej“ mit den Modernisierungsbemühungen im wiedererstandenen polnischen Staat zwischen 1918 und 1939, wobei er anhand von statistischem Material und einzelnen Vorhaben deren Inselcharakter hervorhebt, aber auch auf die sehr modernen Ansätze im sozialen Bereich verweist, die jedoch nicht mehr zur Ausführung gelangten.
Andrzej Piasecki untersucht in seinem Beitrag „Modernizacja Polski lokalnej: fakty, mity, oceny“ das schwierige Verhältnis von zentraler Steuerung und lokalen Bedürfnissen, wobei er insbesondere die Verwaltungsreformen seit 1945 in den Blick nimmt und darlegt wie etwa die Ansiedlung von Behörden, Bildungseinrichtungen und Firmen bzw. deren Verlegung oder Schließung die Situation einzelner Städte drastisch verändern können.