Mennoniten zur Zeit der „Machno-Republik“ (Ende 1919)
Einleitende Bemerkungen
Dmytro Myeshkov: Einleitende Bemerkungen zu Olena Khodchenko: Mennoniten zur Zeit der „Machno-Republik“ (Ende 1919)
Mit der Veröffentlichung des Artikels von Olena Khodchenko befasst sich das Nordost-Institut erneut mit dem Thema Geschichte der mennonitischen Kolonien in der Ukraine während der Revolution und des Bürgerkriegs. Zuvor war auf der Online-Plattform des Nordost-Instituts „Übersetzte Geschichte“ bereits ein Artikel von Aleksandr Beznosov über die mennonitischen Nikolajpoler Kolonien in den Jahren 1918–1920 veröffentlicht worden. In den Jahren seit dieser Veröffentlichung haben sich Historiker in der Ukraine und in Nordamerika wiederholt mit der Geschichte der deutschen und mennonitischen Bevölkerung der Ukraine während der ukrainischen Revolution, der deutsch-österreichischen Besatzung von 1918 und des Bürgerkriegs sowie im Kontext der Bauernbewegung und der kollektiven Erinnerung befasst. Wie Beznosovs Artikel wurde auch die Studie von Khodchenko ursprünglich im Jahrbuch des renommierten Zentrums für Deutsch-Ukrainische wissenschaftliche Forschungen (Centr ukraïns’ko-nimec’kych naukovych doslidžen’, Центр українсько-німецьких наукових досліджень) der Nationalen Universität Dnipro (Ukraine) veröffentlicht. Dieser Artikel wurde für die Veröffentlichung in der „Übersetzten Geschichte“ ausgewählt, weil er eine Art Zusammenfassung der Forschungsarbeit zu diesem Thema in den letzten 20 Jahren darstellt.
Die anhaltende Aufmerksamkeit mennonitischer Diaspora- und nordamerikanischer Historiker für das Thema erklärt sich aus den dramatischen Ereignissen der Jahre 1918–1921, die die mennonitische Gemeinschaft im ehemaligen Russländischen Zarenreich in ihren Grundfesten erschütterten und den Auftakt zur Massenauswanderung von Mennoniten aus der Sowjetunion Mitte der 1920er Jahre bildeten. Die Antwort der Mennoniten auf die ständigen Bedrohungen durch zahlreiche gegnerische Parteien und kriminelle Banden bestand darin, einen der wichtigsten Grundsätze ihres Glaubens aufzugeben: den Pazifismus. Die Beteiligung von Mennoniten und deutschen Siedlern an den bewaffneten Einheiten der Weißen Armee sowie die Aufstellung von bewaffneten Selbstschutzeinheiten in den Kolonien hatte höchst umstrittene Folgen. Obwohl der Selbstschutz oft dazu beitrug, das Eigentum und das Leben der Zivilbevölkerung zu schützen, provozierte er oft rücksichtslose feindliche Angriffe, die in zahlreichen tragischen – in Memoiren und auch in der wissenschaftlichen Literatur –beschriebenen Exzessen endeten. Eine umfassende Untersuchung dieser Zeit sollte die Leser daher nicht nur dem Verständnis des historischen Kontextes näherbringen, in dem diese damals wie heute für viele Mennoniten umstrittene Entscheidung getroffen wurde, sondern auch dem Verständnis der Krise der mennonitischen Identität, die durch die aktive Teilnahme am bewaffneten Kampf verursacht wurde.
Dieses Thema ist auch für ukrainische Historiker von großem Interesse. Dabei liegt der Schwerpunkt der meisten Studien vor allem auf der Untersuchung regionaler Besonderheiten, die den Entwicklungen in den Jahren 1917–1921 und den Handlungen der Akteure ihren eigenen Stempel aufdrückten. Zu diesen Besonderheiten in der Südukraine gehörte der multiethnische Charakter der lokalen Bevölkerung. Während zahlreiche nationale und konfessionelle Gruppen, die ihre eigenen Vorstellungen von den Zielen der Revolution entwickelten, gezwungen waren, auf die Herausforderungen der ausländischen Intervention und des Bürgerkriegs zu reagieren und ihren Platz in der sich rasch verändernden Situation zu finden, entwickelte sich in der Nähe der deutschen und mennonitischen Siedlungsgebiete eine breite bäuerliche Bewegung, die stark von dem anarchistischen Führer Nestor Machno beeinflusst wurde.
Was ist neu an Khodchenkos Studie? Erstens, zog Khodchenko neue Quellen heran – schriftliche Zeugnisse von Augenzeugen, die von Historikern bisher nicht genutzt wurden. Zweitens, erweiterte sie den geografischen Fokus der Studie: Während sich die meisten von oben genannten Publikationen (Beznosov, Patterson) zum Thema hauptsächlich auf die tragischen Ereignisse in den Nikolajpoler-Kolonien konzentrierten, bezog Khodchenko auch Zahradovka- und Borozenko-Kolonien in ihre Analyse ein. Drittens, versuchte Khodchenko auf der Grundlage einer akribischen Quellenanalyse herauszufinden, welche Teile von Machnos Aufstandsarmee für die Massaker an der Zivilbevölkerung in den genannten mennonitischen Kolonien verantwortlich waren. Schließlich auf der Grundlage der gesammelten Informationen analysierte die Autorin den psychologischen Aspekt der Ereignisse rund um die mennonitischen Siedlungen.
Die Verteidigung und Verwaltung der großen Gebiete, die im Oktober 1919 unter die Kontrolle von Machno kamen, erforderte erhebliche Ressourcen. Vor dem Hintergrund verheerender Epidemien, Schwierigkeiten bei der Versorgung der Armee, nachlassender Disziplin sowie dem Beginn von Denikins Offensive wurde auf dem Kongress der Arbeiter- und Bauernabgeordneten am 2. November 1919 in Oleksandrivs’k ein Beschluss gefasst, den Besitz von Großgrundbesitzern unter den Bauern aufzuteilen. Die Information über diesen Beschluss verbreitete sich schnell. Gleichzeitig wurden die Bewohner der mennonitischen Kolonien zunehmend mit den exorbitanten Forderungen der sich zurückziehenden Einheiten der Machno-Aufstandsarmee konfrontiert. Das entschlossene Vorgehen der bewaffneten Selbstschutzeinheiten verschärfte die Spannungen in den Beziehungen der Mennoniten nicht nur zu den machnovci (Machno-Aufstandsarmee-Angehörige), sondern auch zu den Bewohnern der benachbarten ukrainischen Dörfer. Die Zahl der Opfer von Angriffen auf mennonitische und deutsche Dörfer zwischen Oleksandrivs’k und Katerynoslav betrug allein im Zeitraum 8.-20. November 1919 ca. 200 Personen, so dass es logisch erscheint, wenn Khodchenko der Frage nachgehen wollte, ob es einen Befehl der Führung der Aufständischen zur Aktion gegen die mennonitischen (deutschen) Kolonien gab. Auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Quellen beantwortet die Autorin diese Frage zwar negativ, kommt aber auch zu dem Schluss, dass die Befehlshaber der einzelnen militärischen Einheiten über einen großen Ermessensspielraum verfügten. Ihre Haltung gegenüber der Zivilbevölkerung der mennonitischen Kolonien war in der Regel situationsabhängig und hing von einer Reihe von Faktoren ab: von ihrer persönlichen Erfahrung im Umgang mit der deutschsprachigen Bevölkerung, von den Informationen über den bewaffneten mennonitischen Widerstand oder von ihrer eigenen Interpretation der politischen Entscheidungen der Armeeführung.
Ähnliche Exzesse mit einer großen Zahl von Opfern fanden in vielen mennonitischen Kolonien statt, weshalb es so wichtig ist, dass Khodchenko neben den Siedlungen der Jazykovo-Kolonie auch die Ereignisse in zwei anderen mennonitischen Großsiedlungen – Zahradovka- und Borozenko-Kolonien – ausführlich behandelt. Der erweiterte geografische Fokus ermöglichte es der Autorin, zu einer Schlussfolgerung über die Muster bei den Angriffen und der Verfolgung der Mennoniten zu gelangen. Khodchenko glaubt, dass die treibende Kraft hinter diesen Angriffen ukrainische Bauern aus den Nachbardörfern waren. Ihre Haltung gegenüber den wohlhabenden Mennoniten war schon lange vor dem Ersten Weltkrieg von scharfen sozialen Widersprüchen geprägt, mit der Folge, dass viele von ihnen sich der Machno-Armee anschlossen, um sich mennonitisches Land anzueignen, ihr Eigentum zu plündern oder einfach nur Rache für vergangene Ausbeutung oder bewaffnete Aktionen des Selbstschutzes zu nehmen. Unter Hinweis auf die Tatsache, dass einige von Machnos Befehlshabern möglicherweise an antijüdischen Pogromen im Sommer 1919 beteiligt waren, charakterisiert Khodchenko die Massaker in den Kolonien Ebenfeld, Steinbach und Münsterberg als Völkermord an der mennonitischen Bevölkerung. Auch Sean Patterson hat sich in seinem Buch, das fast zeitgleich mit Khodchenkos Artikel erschienen ist, mit dem Zusammenhang zwischen ethnischen und sozialen Faktoren bei der Verfolgung und Ermordung von Mennoniten beschäftigt. Unter Hinweis darauf, dass sich unter den machnovci, die sich an den Massakern an Mennoniten beteiligten, auch Leute aus den deutschen und mennonitischen Kolonien befanden, und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die machnovci in der Regel die mittellosen Mennoniten verschonten, kommt Patterson zu dem Schluss, dass es zwar sicherlich eine Abneigung der ukrainischen Bauernschaft gegen die Mennoniten als ethnische oder konfessionelle Gruppe gab, die Verfolgung und die zahlreichen Opfer aber nicht allein durch den ethnischen Faktor erklärt werden können: „Reality was often far more nuanced and even contradictory“. Die Frage, wie die blutigen Exzesse in den Mennoniten- und Nachbardörfern in den Jahren 1918–1919 am besten zu charakterisieren sind – als Völkermord an den Mennoniten oder als Exzesse des revolutionären Terrors – bleibt eine Aufgabe für die zukünftige Forschung.
Artikel veröffentlicht als:
Olena Chodčenko: Menonity v period “Machnovs’koï respubliky” (kinec’ 1919 r.), in: Sučasni doslidžennja z nimec’koï istoriï. Dnipro 2022, S. 51-68.
Олена Ходченко: Меноніти в період «Махновської республіки» (кінець 1919 р.). // Сучасні дослідження з німецької історії. Дніпро, 2022, c. 51-68.