Probleme der Eingliederung der deutschen Zwangsumsiedler in die kasachische Gesellschaft
Einleitende Bemerkungen
Einleitende Bemerkungen zu Podoprigora_Dönninghaus
In den vergangenen dreißig Jahren waren die im Jahr 1941 vollzogenen Zwangsumsiedlungen deutschstämmiger Sowjetbürger nach Kasachstan und deren Überwachung an den Orten der Sondersiedlung mehrfach Gegenstand wissenschaftlicher Forschungsarbeiten und Dokumentenbände, die vor allem allgemeinen Fragen der Deportation und entsprechendem Zahlenmaterial, Fragen der Aussiedlung aus den kompakten und verstreuten Siedlungsgebieten der Sowjetdeutschen, der Um- und Ansiedlung am neuen Ort, der Mobilisierung zur Arbeitsarmee oder der Zeit der Sondersiedlung gewidmet waren. Es ist anzumerken, dass das entsprechende Zahlenmaterial bis zum heutigen Zeitpunkt nicht immer einheitlich ist und je nach Quelle stark voneinander abweichen kann.
In dem an dieser Stelle vorgestellten Artikel greift Julija Podoprigora zur Einordnung und Präzisierung der Zahlen auf Dokumente aus den Beständen des Zentralen Staatsarchivs der Republik Kasachstan und des Archivs für Rechtsstatistik und Sondermeldewesen der Generalstaatsanwaltschaft der Republik Kasachstan zurück. Aufgrund des Archivmaterials kann die Autorin konkret nachzeichnen, wie sich die Zahl der im Zeitraum zwischen September 1941 und Februar 1942 in der Kasachischen SSR eingetroffenen deportierten Deutschen entwickelte, sowie sich deren Ansiedlung und Eingliederung in die verschiedenen Gebiete Kasachstans detailliert vollzog. Die Archivdokumente werden durch Augenzeugenberichte unterfüttert, auf die die Autorin zurückgreift, um die unterschiedlichen mit der Bereitstellung von Wohnraum, der Versorgung und der Arbeitsaufnahme verbundenen Aspekte der Eingliederung der deutschen Übersiedler in die kasachische Gesellschaft zu beschreiben.
Zu den bereits vor Ausbruch des Krieges dauerhaft in der Kasachischen SSR lebenden Deutschen (über 92 000 Personen) kamen bis Anfang Februar 1942 über 400 000 aus ihren angestammten Siedlungsgebieten deportierte Deutsche hinzu. Nach deren Aufnahme und Ansiedlung in der Republik konnten weder die zentralen noch die regionalen Behörden einen katastrophalen Mangel an Lebensmitteln, Hunger und zahlreiche durch die Auszehrung bedingte Todesfälle vor allem unter Kindern und Jugendlichen verhindern. In ihrem Artikel analysiert Podoprigora die von den deutschen Übersiedlern im Januar bis Februar 1942 verfassten Eingaben und Beschwerdeschreiben an den Rat der Volkskommissare und die Staatsanwaltschaft der Kasachischen SSR, deren Verfasser die Behörden über ihre schwere materielle Lage in Kenntnis setzten. Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass die Behörden vor dem Hintergrund des Krieges und der in der Republik herrschenden ökonomischen Schwierigkeiten nicht in der Lage waren, die Umsiedler für ihr an den Aussiedlungsorten zurückgelassenes Getreide und Vieh sowie deren sonstigen Besitz zu entschädigen, wodurch die deportierte Bevölkerung an den Rand des Überlebenskampfes getrieben wurde. Die in den Jahren 1942–1946 vollzogene Mobilisierung der gesamten arbeitsfähigen deutschen Bevölkerung zur Arbeitsarmee sollte nicht nur dem Zwangsarbeitssystem in der Kasachischen SSR neue Arbeitskräfte zuführen, sondern auch die an den Siedlungsorten der deportierten Deutschen herrschenden sozialen Spannungen abbauen. Das darauffolgende strenge Überwachungssystem in der Sondersiedlung ließ die Hoffnung auf eine Abschwächung und Aufhebung der vonseiten der staatlichen Organe über die deutsche Bevölkerung ausgeübten Kontrolle für lange Jahre schwinden. In ihrem Fazit betont Podoprigora, dass es überaus wichtig sei, das dem Thema der Deportationen, der Arbeitsarmee und der Sondersiedlung der nach Kasachstan deportierten Deutschen gewidmete Archivmaterial zu bewahren und für die Forschung zugänglich zu machen. In diesem Zusammenhang streicht sie die besondere Bedeutung der von der Staatlichen Kommission für die vollständige Rehabilitierung der Opfer der politischen Repressionen in der Republik Kasachstan geleisteten Arbeit heraus.
Der vorliegende Beitrag wurde im Jahr 2022 in russischer Sprache in dem Sammelband „Materialien der Staatlichen Kommission für die vollständige Rehabilitierung der Opfer der politischen Repressionen (1920er–1950er Jahre)“ erstmals veröffentlicht. Podoprigoras Forschungsinteressen decken ein breites Spektrum von mit der Geschichte und ethnosozialen Entwicklung der deutschen Diaspora in Kasachstan verbundenen Fragen ab. Im Rahmen der Umsetzung von wissenschaftlichen Forschungs- und Bildungsprojekten wie z.B. dem Virtuellen Museum und dem Interaktiven Archiv der Deutschen Kasachstans arbeitet sie seit vielen Jahren mit den gesellschaftlichen Organisationen der in Kasachstan lebenden Deutschen zusammen.
Podoprigora ist Kandidatin der historischen Wissenschaften und Mitglied der innerhalb der Staatlichen Kommission zur vollständigen Rehabilitierung der Opfer der politischen Repressionen bei der Stadtverwaltung Almaty bestehenden Arbeitsgruppe zur Untersuchung und Begutachtung von Fällen der Rehabilitierung von Opfern der politischen Repressionen.