Historiker versuchen nicht nur, ein wissenschaftliches Bild der Vergangenheit zu entwerfen. Sie sind mit ihrer Geschichtsschreibung gleichzeitig Teil der Geschichte, denn ihre Untersuchungen spiegeln die Fragen und Probleme ihrer eigenen Zeit wider.

Das Projekt „Geschichte der lettischen Geschichtsschreibung“ beschreibt die Entstehung der lettischen Geschichtsschreibung in Lettland seit der Zeit des Nationalismus im 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Dabei wird deutlich, dass lettische Historiker, Forschungseinrichtungen und Themen in besonderem Maße von der wechselhaften, durch Revolutionen, Weltkriege und politische Systemwechsel beeinflussten Geschichte dieses baltischen Landes geprägt worden sind.

 

Die baltische Region ist spätestens seit Entstehung moderner Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert eine Region widerstreitender Erinnerungen und konkurrierender Geschichtsbilder. Dominierte in den baltischen Ostseeprovinzen Russlands (Estland, Livland und Kurland) bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch ein Geschichtsbild, das von der deutschen Oberschicht geprägt wurde und sich am deutschen Historismus orientierte, so übernahmen gegen Ende des Jahrhunderts und vor allem nach Gründung der baltischen Staaten 1918 nationale Geschichtsnarrative der Esten und Letten diese Rolle. In einer Region, die im 20. Jahrhundert von Revolutionen, zwei Weltkriegen und häufigen politischen Systemwechseln erschüttert wurde, bedeutete dabei der Streit um die Geschichte immer auch einen Streit um Macht und kollektive Identitäten.

Die „Geschichte der lettischen Geschichtsschreibung“ zeichnet erstmals die Entstehung eines dieser konkurrierenden Narrative, der lettischen nationalen Geschichtsschreibung (und später –wissenschaft) zwischen den 1880er Jahren des 19. Jahrhunderts und ihren Weg bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts nach. Sie gruppiert sich dabei um vier Säulen oder Akteure:

  • Zum einen sind es die historischen und politischen Rahmenbedingungen, die die lettische Geschichtsschreibung jeweils herausfordern, beeinflussen oder nach etwa zwei Jahrzehnten beginnen, selbst zu historischem Material zu gerinnen;
  • zum zweiten sind es die Historiker als Zeitgenossen und Personen, die die Geschichte Lettlands erforschen, ihr einen öffentlichen Resonanzboden verschaffen und sie in sprachliche Form, in Texte gießen;
  • zum dritten werden geschichtswissenschaftliche Institutionen oder Vereinigungen beschrieben, die die lettische Erinnerungslandschaft prägen, und
  • zum vierten werden die jeweiligen Themen, Kontroversen und Diskurse, die den eigentlichen Inhalt der historischen Forschung bildeten, nachgezeichnet.

Es wurde darauf geachtet, die wichtigsten und zentralen Publikationen der lettischen Geschichtsschreibung der letzten etwa 140 Jahre entweder in den einzelnen Kapiteln oder in den Anmerkungen zu berücksichtigen und kurz auf ihre Inhalte einzugehen. Damit gelingt dem Projekt neben der Darstellung des „Dialogs“ zwischen Geschichte und Geschichtswissenschaftlern auch, die wichtigsten Veröffentlichungen der lettischen Geschichtswissenschaft der letzten etwa 150 Jahre vorzustellen, die aufgrund sprachlicher Barrieren außerhalbs Lettlands oft unbekannt blieben.

Die Arbeit wird in der Reihe „Veröffentlichungen des Nordost-Instituts“ veröffentlicht, eine lettische Übersetzung ist im Verlag der Universität Lettlands in Riga geplant.

 

06.01.2021