Lettland im Stalinismus – Begegnungen hinter dem „Eisernen Vorhang“ (1945‒1956)
Das KGB der SSR Lettland und die Akte „Ber“
Ein 38jähriger schlanker Mann im grauen Anzug verlässt im Zentrum einer europäischen Hauptstadt sein Hotel und begibt sich auf einen Rundgang durch die Stadt. Eigentlich nichts Besonderes – außergewöhnlich sind allerdings das Datum, der Ort, die Person und die Umstände.
Es ist Samstag, der 3. Juni 1961. Die »Cīņa« (dt. Der Kampf), das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Lettlands, meldet ein Treffen zwischen Nikita Chruščev und John F. Kennedy in Wien, der Hauptstadt des neutralen Österreich. Für Riga, Hauptstadt der Sozialistischen Sowjetrepublik Lettland, wird für diesen Tag wechselhaftes Wetter mit leichten Schauern bei 20 bis 25 Grad vorhergesagt. Und es ist 11:25 Uhr, als Dietrich André Loeber, Rechtswissenschaftler aus Hamburg, das Hotel Riga im Zentrum der Stadt in Richtung Bahnhofsunterführung und Moskauer Vorstadt verlässt.
Dies alles ist ungewöhnlich, denn Riga und Lettland waren seit 1940, unterbrochen von drei Jahren deutscher Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg, von der Sowjetunion annektiert. Der bewaffnete Widerstand lettischer Partisanen gegen die sowjetische Okkupation hatte erst mit Stalins Tod 1953 geendet, und die baltischen Sozialistischen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen gehörten zum Baltischen Militärbezirk, der die Nordwestgrenze der Sowjetunion an der Ostsee gegen die NATO schützen sollte. Eigentlich war das „Sowjetbaltikum“, wie es jetzt im sowjetischen Jargon hieß, für westliche Touristen Sperrgebiet, und nur wenige offizielle Gruppen aus sozialistischen Bruderländern oder neutralen Staaten wie Schweden, Mitglieder sozialistischer Parteien oder Gewerkschaften, durften die besetzten baltischen Staaten in den 1950er und 1960er Jahren besuchen.
Die Besuche beschränkten sich in der Regel auf die Hauptstädte Tallinn, Riga und Vilnius, akribisch vorbereitet von den lokalen Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der UdSSR und argwöhnisch beobachtet und protokolliert vom KGB, dem sowjetischen „Komitee für Staatssicherheit“. Das Umland blieb Ausländern in der Regel verschlossen. Das besondere Misstrauen der sowjetischen Machthaber galt vor allem den etwa 200 000 Letten, die seit ihrer Flucht vor der Roten Armee 1944/45 in Westeuropa, den USA, Kanada und Australien lebten und sich dort politisch gut vernetzt für die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands einsetzten. Aber auch die im Baltikum geborenen und seit Ende des Krieges in der Bundesrepublik Deutschland lebenden, landsmannschaftlich organisierten Deutschbalten waren den sowjetischen Machthabern ein Dorn im Auge, denn auch sie beherrschten häufig die selten gesprochene Landessprache Lettisch, kannten die örtlichen Verhältnisse und machten aus ihrer antisowjetischen Haltung keinen Hehl.
Erst 1956, mit der politischen Tauwetterperiode unter Chruščev, wurde in Riga eine Filiale der sowjetischen Tourismusagentur Inturist aufgebaut. Während des gesamten Jahres 1960 besuchten gerade einmal 2 649 Ausländer, die meisten aus sozialistischen Ländern, die Stadt. 1959 gelang es erstmals einer Gruppe von Auslandsletten aus den USA, ihre alte Heimat zu besuchen, bestehend aus Altmarxisten und Revolutionären, die das Land vor dem Ersten Weltkrieg als Emigranten oder Revolutionsflüchtlinge verlassen und das unabhängige Lettland der Zwischenkriegszeit nie kennengelernt hatten. Erst 1960 kam eine kleine Gruppe jüngerer Letten, die 1944 vor der Roten Armee geflohen waren, über Inturist und den Umweg über Moskau für wenige Tage nach Riga, wo die Spuren des Krieges noch immer sichtbar waren.
Dietrich A. Loeber sprach mühelos Lettisch und Russisch, und er reiste weder in einer Gruppe, noch war er Lette. Loeber war Deutschbalte und seine Familie stammte aus Riga. Sein Vater August Loeber (1865–1948) hatte als Senator und Mitglied des Obersten Gerichtshofes Lettlands ein vergleichsweise hohes Amt bekleidet, vielleicht weil er einer der wenigen deutschbaltischen Befürworter der 1918 gegründeten Republik Lettland gewesen war. Dietrich A. Loeber wurde 1923 in Riga geboren, besuchte dort das deutsche Klassische Gymnasium und verließ als 16jähriger zusammen mit seiner Familie im Zuge der Umsiedlung der Deutschbalten aus Estland und Lettland seine Heimat, eine Folge des Hitler-Stalin-Paktes 1939 und dessen Geheimen Zusatzprotokolls. Nach dem Krieg studierte er Rechtswissenschaften in Marburg und an der Columbia University in den USA, arbeitete zunächst als Rechtsanwalt und Redakteur der Zeitschrift »Osteuropa Recht«, von 1958 bis 1966 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Recht in Hamburg und leitete ab 1966 das Institut für Recht, Politik und Gesellschaft der sozialistischen Staaten in Kiel. Später sollte Loeber, der über sehr gute persönliche Kontakte ins lettische Exil verfügte, als Völkerrechtler Mitautor der zentralen Unabhängigkeitsdeklarationen werden, die 1988 und 1989 den politischen Prozess der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands einleiteten. Loeber besaß neben der deutschen auch die Staatsangehörigkeit der Republik Lettland. Bekannt wurde er u. a. als Herausgeber einer umfangreichen Dokumentensammlung zur Umsiedlungsaktion der Deutschbalten aus Estland und Lettland 1939–1941 („Diktierte Option“, Neumünster 1972).
1957 reiste Loeber ein erstes Mal nach Moskau, ein zweites Mal 1961 im Rahmen eines Wissenschaftleraustauschs und bereits für ein ganzes Jahr, mit dem Ziel, an der Moskauer Universität das sowjetische Rechtssystem zu studieren. Von hier aus gelang ihm im Sommer 1961 die Reise ins sowjetisch besetzte Riga, in die Stadt seiner Kindheit und Schulzeit, nicht unbeobachtet vom sowjetlettischen KGB, der regionalen Filiale des gesamtsowjetischen KGB beim Innenministerium der sowjetischen Teilrepublik Lettland. Zum gleichen Zeitpunkt richteten die lettischen KGB-Beamten die »Akte Operative Ergebnisse Nr. 873 – ,Ber‘« (russ. Delo operativnoj podborki Nr. 873 – ,Ber‘, ab 1978 Delo operativnoj razrabotki) ein, offensichtlich nach der zweiten Silbe des Familiennamens benannt. Der Grund: Das Justizministerium der DDR hatte gegenüber der Ersten Hauptverwaltung des sowjetischen KGB in Moskau behauptet, dass Loeber mit dem Geheimdienst der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung stehe. Loeber sollte sich später daran erinnern, dass er 1960 auf einem Kongress in Sofia eine Gruppe von Juristen aus der DDR kennengelernt hatte. Er selbst gab an, zu keinem Zeitpunkt mit einem Geheimdienst zusammengearbeitet zu haben. Die Akte bricht erst nach dem 23. Februar 1990 ab, aufgrund eines Telegramms aus Moskau, wenige Monate vor dem August-Putsch gegen Michail Gorbačev und der Wiederherstellung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten.
Während seiner zahlreichen Aufenthalte in Riga wurde Loeber fast 30 Jahre lang beobachtet und beschattet, seine Akte umfasste zuletzt mehr als 800 Seiten. Sie befindet sich heute im Nationalarchiv Lettlands, im »Archiv für die Dokumente des KGB der Sozialistischen Sowjetrepublik Lettland (LSSR)« (lett. LPSR VDK dokumentu arhīvs).
Das Dokument, das hier in deutsche Sprache übersetzt wiedergegeben wird, enthält beispielhaft einen der Berichte, wie sie von den Informanten des KGB über Loeber angelegt wurden: Loeber verlässt am Morgen des 3. Juni 1961 zunächst das Hotel Riga, am Sowjetboulevard (lett. Padomju bulvāris) im Zentrum gegenüber der Oper gelegen, und geht in die Bibliothek der sowjetlettischen Akademie der Wissenschaften, die sich in der Moskauer Vorstadt hinter dem Bahnhof befand. Dort verbringt er etwa vier Stunden; vermutlich arbeitet er. Anschließend besucht er eine Buchhandlung, das Hauptgebäude der Universität in Sichtweite des Hotels und kehrt zu einem kurzen Lunch ins Hotel zurück, bevor er sich in einem Kaufhaus über das sowjetische Produktangebot informiert und Zigaretten kauft. Ferner ersteht er in einem Schallplattenladen gegenüber ein paar Schallplatten und in einer Parfümerie eine sowjetische Imitation der weltberühmten blauen „Nivea Creme“. Die Straßenbahn Nr. 11 bringt ihn gegen 19 Uhr in die Kasernenstraße (lett. Kazarmu iela) im Vorstadtbezirk »Proletarier«, eine Nebenstraße der Hospitalstraße (lett. Hospitāļu iela), in der er mit seiner Familie bis 1939 gelebt hatte. Vermutlich sucht er hier nach alten Nachbarn, bevor er weiter stadtauswärts in das ehemalige Villenviertel »Waldpark« (lett. Mežaparks) im Vorstadtbezirk »Oktober« fährt, wo er in der kleinsten Kirche Rigas, der Gustav-Adolph-Kapelle, die in den 1920er und 1930er Jahren deutschen und lettischen Lutheraner als Kirche diente, an einem Gottesdienst teilnimmt. In der Nähe trifft er einen unbekannten Mann, unterhält sich mit ihm etwa eine Stunde und fährt dann mit der Tram Nr. 11 zurück in sein Hotel.
Die Beschattung dauerte etwa zwölf Stunden und blieb letztlich unergiebig. Loeber selbst kommentierte seine Akte, die er 1994 einsehen konnte, später mit den Worten: „Wegen ,Ber‘ wurde eine riesige Staatsmaschinerie in Gang gesetzt, und es wurden Menschen belästigt, die die Sicherheit des Staates nicht bedrohten. Um ihre Aufgaben zu erfüllen, investierten das KGB und seine Informanten unzählige Arbeitsstunden zu Lasten des Staatshaushaltes. Das Resultat war winzig. Faktisch endete die Angelegenheit mit nichts.“ (Latvijas Arhīvi, 1996, Nr. 3-4, S. 138).