Es sind verstörende Bilder, die auf den drei Ansichtspostkarten abgebildet sind: gefallene russische Soldaten in der Libauer und der Börsenstraße in Memel (Klaipeda) im damaligen Ostpreußen. Die Aufnahmen sind offenbar unmittelbar nach dem Ende eines Kampfes gemacht worden; noch sind keinerlei Tätigkeiten zu entdecken, die auf einen bevorstehenden Abtransport der Toten und des Pferdes schließen lassen. Andererseits hat sich die Bevölkerung offenkundig schon an den Anblick gewöhnt, bis auf einen kleinen Jungen, dessen Interesse wohl auch durch den Fotografen geweckt ist, scheint sich bereits wieder der Alltag eingestellt zu haben: Die beiden Frauen im Hintergrund wenden der Szene den Rücken zu und setzen offenkundig ihren Weg gemächlich gehend fort.

Die Postkarten führen uns zurück in eine heute lange vergessene Episode des Ersten Weltkrieges in Ostpreußen: Am 17. März 1915 rückten russische Einheiten über die alte Reichsgrenze zwischen dem russischen Polangen (Palanga) und dem deutschen Nimmersatt (Nemirseta) vor und erreichten am 18. März abends das rund 20 km entfernt liegende Memel, dessen Bewohner sich zum Teil auf die Kurischen Nehrung in Sicherheit gebracht hatten. Glaubt man den deutschen Berichten, so ging es den Soldaten nur um Plünderung und Zerstörung; es kam zu Übergriffen, sogar zur Erschießung und Verschleppung von Zivilisten. Am 21. März kämpften aus Stettin (Szczecin) herangeführte deutsche Truppen die Stadt frei, und die russischen Einheiten zogen sich über die Grenze zurück.

In der Tat ist der militärische Hintergrund auch aus der einzigen gelaufenen der drei Karten deutlich ersichtlich. Ende Juli 1915 nutzte Hans Szameitis die Karte mit der Fotografie des toten russischen Soldaten und des Pferdekadavers, um seiner Mutter in Berlin mitzuteilen, dass er aus dem Osten kommend in Memel eingetroffen sei und am nächsten Morgen mit dem Zug nach Cüstrin (Kostrzyn) weiterfahren werde. Aus dem Text geht hervor, weswegen er diese Karte ausgewählt hatte: „Anbei eine Ansichtskarte von hier z. Zt. da die Russen in Memel waren. Es sind jetzt noch Spuren von den Straßenkämpfen hier zu sehen.“ Hans deklarierte die Postkarte handschriftlich zur Feldpostkarte, so dass sie kostenlos befördert wurde und dementsprechend auch keine Frankierung (und in diesem Fall auch keinen Stempel) trägt.

Offenkundig erfüllte die Postkarte in unserem Fall vor allem die Funktion der Kriegsberichterstattung. In der Tat war der Erste Weltkrieg in dieser Hinsicht eine Zeitenwende: Die visuelle Vermittlung des Geschehens stillte in zunehmendem Maße das Informationsbedürfnis in der Heimat. Ansichtspostkarten mit militärischen Motiven oder mit Landschaftsaufnahmen aus der jeweiligen Einsatzregion wurden von den Soldaten wohl gerne als Feldpostkarten genutzt. „Mittels Bildern wohnten die Betrachter nun kriegerischen Ereignissen bei, die zeitnah zu ihrem Alltag stattfanden.“ (Gerhard Paul) Allerdings waren Motive wie die aus Memel eher selten, meist herrschte die heroische Darstellung der eigenen Krieger zumindest bei offiziellen Fotografien vor. Anders verhielt es sich bei soldatischen Amateurfotografen, auf die auch die Memeler Aufnahmen zurückgehen könnten. Die Postkarten wurden von der Buchdruckerei Pawlowski in Tilsit verlegt, von der weitere Kriegspostkarten belegt sind. Durch Hans Szameitis, der das Datum seiner Nachricht festhielt, wissen wir, dass die Karten mit den Motiven aus Memel bereits im Sommer 1915 in Umlauf waren. Sie wurden jedoch ein weiteres Mal zur Bebilderung eines Erlebnisberichtes verwendet, der 1916 unter dem Titel „Der Russeneinfall in Memel im März 1915. Eigene Erlebnisse aus jenen Schreckenstagen von Emil Schadereit“ ebenfalls bei Pawlowski erschien und für den sich die Bilder zur Zweitverwertung geradezu anboten. Die im Buch abgedruckten Abbildungen entsprechen im Übrigen denen der Postkarten, und weitere Bilder gefallener russischer Soldaten finden sich nicht. So ist davon auszugehen, dass am 21. März 1915 keine weiteren Fotos in den Memeler Straßen entstanden waren, die in die Hände des offenkundig geschäftstüchtigen Buchdruckers Pawlowski gelangten. Zweifellos hatte der Verlag mit seiner Motivauswahl neben patriotischen Motiven durchaus auch lukrative Überlegungen im Sinn. Denn es lag nahe, dass die auf dem Marsch befindlichen Soldaten die Bilder kaufen und als Feldpostkarten nutzen würden.

Die vorgestellten Karten bilden ein weit außerhalb des normalen Spektrums der Ansichtspostkarte liegendes, chronologisch auf den Ersten Weltkrieg und in geringerem Umfang auf den Zweiten Weltkrieg begrenztes Themenfeld ab. Sie stehen zwar durchaus wie alle Ansichtspostkarten für eine schnelle und knappe (Gruß)Botschaft, die mit einem Bildmotiv verbunden ist, doch erfüllen sie auch die mediale Funktion der Berichterstattung und der Verbindung zur Heimatfront.