Das Bild auf der Vorderseite zeigt ein leicht beschädigtes Gebäude. Die Bildunterschrift informiert darüber, dass es sich dabei um ein Fabrikgebäude handelt, das in der Stadt Kowno (Kaunas) gelegen war. Sie lässt auch wissen, dass die auf dem Fabrikhof verstreuten Maschinenteile und Eisenbahnräder sowie die zu den Fenstern im 1. Stock führenden Holzbalken auf eine begonnene Evakuierung zurückzuführen sind. Deren Vollendung wurde durch das schnelle Vorrücken der deutschen Truppen und die Anfang August 1915 erfolgte Einnahme der Stadt, die zuvor im russischen Generalgouvernement Litauen lag, verhindert.

Der in der Bildunterschrift genannte Name des Fabrikbesitzers ermöglicht eine genaue räumliche Einordnung des Bildes: Die Nägel- und Schraubenfabrik Tüllmann & Co. (richtig: Tillmann) war im Vorort Karmeitai ansässig. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren mehrere Vertreter der Fabrikantenfamilie Tillmann aus dem Raum Wuppertal-Leverkusen nach Russland gekommen, um in Sankt Petersburg, Moskau und Kowno Handelshäuser und metallverarbeitende Unternehmen zu betreiben. Nachdem einer von ihnen – der junge Ingenieur Richard Tillmann – in den späten 1870er Jahren in Kowno eine kleine Fabrik übernommen und sich dort mit seiner Familie niedergelassen hatte, stiegen die Tillmanns schnell zu einer der wohlhabendsten Familien der Stadt an der Memel auf und hinterließen in deren Geschichte zahlreiche Spuren.

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Richard in Sankt Petersburg wegen seiner deutschen Herkunft zwar kurzzeitig in Haft, wurde aber aufgrund seiner russischen Staatsbürgerschaft und vor allem dank seiner Verbindungen zum Gouverneur von Kowno schon bald wieder entlassen. Auch wenn es ihm offensichtlich gelang, einer Zwangsverschickung in entlegene Landesteile zu entgehen, setzte der Krieg einem friedlichen Leben in Kowno vorerst ein Ende und hatte zur Folge, dass die mittlerweile stark gewachsene Familie Tillmann zwischen Deutschland und Russland getrennt war. Erst in den 1920er Jahren konnten die Tillmanns wieder in Kaunas, das nunmehr Hauptstadt der Republik Litauens war, Fuß fassen, bevor sie dem Land schließlich im Frühjahr 1941 im Rahmen einer Umsiedlung endgültig den Rücken kehrten. Dieser durch das ‚Jahrhundert der Extreme‘ geprägten Familiengeschichte war 2019 in Kaunas eine Ausstellung unter dem Titel „Memory Code: Legacy of the Tillmanns in Kaunas“ gewidmet.

Die Ansichtskarte verbildlicht jedoch nicht nur das Schicksal des Fabrikbesitzers und seiner Familie. Sie steht auch exemplarisch für die Kriegserfahrungen tausender Zivilisten, Fabrikarbeiter und anderer Bewohner Kownos, deren Lebensgrundlage im Krieg zerstört wurde. Noch nie zuvor hatte ein Krieg solch umfassende Evakuierungsmaßnahmen nach sich gezogen, wie es in den westlichen und südwestlichen Gebieten Russlands während des Ersten Weltkriegs der Fall war. Nicht nur mussten Millionen Menschen ihre Heimat verlassen. Tausende Fabriken wurden – nicht selten mitsamt ihrer Arbeiterschaft und dem Fachpersonal – in die inneren Landesteile abtransportiert. Während Ausmaß und Folgen der Flucht aus den frontnahen Gebieten gut erforscht sind, lässt sich dies mit Blick auf die Auswirkungen, die die Evakuierung der Unternehmen auf den Technologietransfer sowie die spätere industrielle Entwicklung der betroffenen Länder und Regionen hatte, bislang nicht behaupten.

 

Literatur:

Aldona Snitkuvienė, Die Industriellenfamilie Tillmanns in Kaunas, 1878-1941, in: Annenberger Annalen über Litauen und deutsch-litauische Beziehungen, Nr. 27 (2019), S. 125-145.