Es gibt in der Kunstgeschichte den Begriff der Repoussoirfigur. Das ist jene Figur, die durch Geste und/oder Blick den Betrachter den Weg in das Bild bahnt. Mal lädt sie mit dem Rücken zum Betrachter stehend ein, es ihr gleich zu tun und das Bild zu schauen, das sich vor ihr ausbreitet - man denke etwa an Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer. Mal wird der Betrachter mit dem Blick fixiert und dann entlang etwa einer Geste in das Bild geleitet, wie beispielsweise in Rembrandt van Rijns Selbstportrait mit Saskia. Was aber ist das alles im Vergleich zu unserem Bild? Mehr als ein Dutzend Augenpaare schauen aus diesem heraus. Aber wen oder was schauen sie eigentlich an? Gewiss nicht uns, die wir stellvertretend für den zeitgenössischen Adressaten, die Karte in der Hand halten und einer aufmerksamen Betrachtung unterziehen. Oder doch? Oder beobachten sie den Fotografen, der – für uns unsichtbar – über seinem auf ein Stativ aufgesetzten Apparat gebeugt die Aufnahme vorbereitet? War das Fotografieren oder das Fotografiertwerden um 1910 – die Druckqualität und -technik, die Typografie der Schrift und die Aufgliederung der Rückseite legen eine solche Datierung nahe – tatsächlich noch so ein aufsehenerregendes Ereignis? Oder hat sich der Fotograf gewissermaßen in die Linie zwischen den Schauenden und einem Ereignis in seinem Rücken gestellt, das von uns ebenso ungesehen als imaginative Leerstelle gleichwohl die ganze Szenerie des Bildes beherrscht? Oder ist alles – auch diese Befürchtung schleicht sich langsam ein – nur Fake?

Schauen wir genauer hin! Uns am nächsten steht fast am rechten Rand des Bildes ein Herr mit Melone, Schnurrbart, Anzug und Aktentasche. Leicht über seine Linke gedreht, scheint er nur für einen kurzen Moment inne gehalten zu haben und im Begriff zu sein, seinen Arbeitsweg fortzusetzen und in die offene Ladentür eintreten zu wollen. In seiner Rechten verflüchtigt sich in der Bewegung ein Spazierstab. Diese minimalen Gesten lenken unseren Blick zur Ladentür, wo ein älterer, ehrwürdiger Herr, uns direkt zugewandt, das Weiterkommen versperrt. Auf diese Weise gebremst gleitet der Blick nach links und bleibt an der Figur einer Frau haften. Fast in der Mitte des Bildes dem Betrachter frontal gegenüber positioniert, die Hände hinter dem Rücken und eng an die Wand hinter ihr gelehnt ist sie eine Art Pflock und zentrale Achse im Bild. Straff steigt in ihrem Rücken die Hauswand auf. Sie füllt die gesamte rechte Seite des Bildes. Über einem Sims, der das Erdgeschoss mit seinem großen Ladenfenster von Wohngeschoss darüber trennt, prangt eine große Aufschrift: „Adolph Hellmuth. Buch & Pap[ierwaren]“.

Die Hauskante zur Rechten der Frau teilt das Bild wie auch die Szenerie in zwei Teile: auf der rechten Bildseite Adolph Hellmuth, sei es der ältere oder der jüngere Herr – vermutlich Vater und Sohn –, und die Frau als weiteres Mitglied der Familie – ein eigenwillig versprengtes Familienportrait mit der Hausfassade als Hintergrund; auf der linken Seite die Stadt. Der kundige Zeitgenosse konnte sie dank Bildunterschrift als Strasburg in Westpreußen entschlüsseln. Sie, die Stadt, staffelt sich in das Bild hinein: der Platz, die Hausreihe im Hintergrund und eine Kirche in der Tiefe. Und so klar geordnet das Arrangement vor der Ladenfassade ist, so situativ stellt sich der Auflauf von jungen Männern und Kindern auf dem Platz zwischen einigen kargen Bäumen, einer Wasserpumpe, Strommasten und einem abgestellten Wagen auf der linken Seite dar. Und während Adolph Hellmuth mit seinem Papierwarenladen die rechte Seite des Bildes beherrscht, ringen Herr Wrzesinski, Waclaw Pieniazek, Thomas [P]aluszewski und Joseph Lozyn[sk]i mit ihren Läden rund um den Platz auf der linken Seite um unsere Aufmerksamkeit. So werden wir langsam gewahr, dass das eigenwillige Portrait zugleich Präsentation eines Familienbetriebes – des Papierwarenladens – ist. Er schiebt sich selbstbewusst vor die städtische und geschäftliche Umgebung und empfiehlt sich damit ebenso als erster Laden am Platze wie seine Besitzer als würdigen Bürger der Stadt. Die Blicke der drei Hellmuths scheinen aufzufordern, diesen Status anzuerkennen und sich zu einem Besuch im Laden zu bemüßigen.

Die linke Seite samt Personenauflauf ist hingegen Staffage, und es muss ungeklärt bleiben, ob herbeigelaufen, herbeigerufen oder – was durchaus übliche Praxis gewesen wäre – in Teilen hineinretuschiert. Sie verleiht dem Hauptmotiv, nämlich Adolph Hellmuth samt Familie und Laden, ob ihrer Differenz in der Erscheinung, erst seine Dominanz. Diese Staffage ist zugleich aber auch das Auditorium, das aufmerksam das Porträtieren dieses Hauptmotives verfolgt. Skeptisch zurückhaltenden Blickes beobachten die Männer und Kinder offenbar, wie der Fotograf schaut und prüft, um seinerseits wiederum den Blick der Porträtierten auf der rechten Seite richtig und angemessen einzufangen. Er, der Fotograf, ist dabei das – für uns nicht sichtbare – virtuelle Scharnier, das die beiden Seiten in Beziehung setzt. Und da die Fotografie schließlich die Stelle des Fotografen einnahm, wird die Karte selbst zum Agenten der Blicke, zum Mittler der sozialen Beziehungen, die das Bild in dieser, seiner besonderen Konstellation durchschwingen.

Durch diese Beobachtungen für die Rolle des Mediums sensibilisiert fällt nun das Arrangement im Ladenfester umso mehr ins Auge. Denn die geradezu überfüllte Auslage wird oben und an den Seiten von Karten gerahmt. Sie sind an Schnüren mit Klammern aufgereiht und scheinen jener Ansichtskarte zu ähneln, die wir in der Hand halten. Spätestens hier sind wir geneigt, die Karte zu wenden – und tatsächlich: die Ansichtspostkarte wurde im Verlag Adolph Hellmuth selbst herausgegeben. Und so wird das Medium, die Karte – so möchte man meinen – zum eigentlichen Gegenstand des Bildes, das sich und seine spezifische mediale Qualität performativ vorführt.

Adolf Hellmuth war offensichtlich ein rühriger Geschäftsmann, der die Medien der Zeit erkannt hatte. Die Herstellung von Bildpostkarten war zu Beginn des Jahrhunderts soweit gediegen, dass die Karten vergleichsweise leicht zu produzieren und billig zu verkaufen waren. Infolgedessen ist für die Jahrhundertwende ein rasanter Anstieg der Anzahl von Verlagen zu beobachten, der auch in der preußischen Provinz kurz vor der damaligen russischen Grenze die Verlage, die Bildkarten herstellten, offenbar aus dem Boden sprießen ließ. Allein in der Sammlung der Ansichtspostkarten des Nordost-Instituts lassen sich neben Verlegern von weiter her drei weitere Strasburger Verlage für die Zeit vor 1920 fassen. Das war lokale Konkurrenz, gegen die es galt, sich durchzusetzen. Unsere Karte war aber eben mehr als nur Ware, gelegentliches Souvenir oder Werbung. In das Bild hat sich das feine Gespinst der gesellschaftlichen Beziehungen in dieser Kleinstadt von kaum mehr als 8000 Seelen, die schon wenige Jahre später zum polnischen Brodnica nad Drwȩcą werden sollte, eingewebt, beginnend mit dem bildlichen Arrangement bis hin zum Anspruch, der sich mit der Produktion und dem Verkauf der Karte selbst verband. Hellmuth wollte offenbar nicht nur werben, sondern auch in der Stadt gesehen werden. Geschickt führte er dabei mit der Karte die Macht des neuen Mediums vor. Ein Medium, über das er zugleich als Verleger verfügte und das er so als Geschäftsmann anderen Geschäftsmännern zugleich als Produkt anpries.