Erst durch die historische Kontextualisierung und kritische Befragung entfalten Medien ihre Bedeutung als Geschichtsquellen. Für Ansichtspostkarten gilt dies besonders, wie an der hier präsentierten Karte mit einer Ansicht Warschaus (Warszawa) gezeigt werden kann. Eine situative Schwarz-Weiß-Aufnahme einer der repräsentativsten Flaniermeilen der Stadt, der Krakauer Vorstadt (Krakowskie Przedmieście) wird darauf abgebildet; ein häufig aufgegriffenes und beliebtes Motiv bei den postalischen „Grüßen aus Warschau“. Trotz der dominierenden Grautöne wird hier der Eindruck einer geschichtsbewussten und zugleich zukunftsgewandten, lebendigen Stadt vermittelt, die durch ihre imposanten Sehenswürdigkeiten und urbane Atmosphäre besticht. Die Silhouette der Altstadt und das Königsschloss im Hintergrund lassen keinen Zweifeln daran, dass Warschau eine traditionsreiche europäische Metropole ist, die den geschichts- und kulturbewussten Besucherinnen und Besuchern viel Sehens- und Erlebenswertes anbieten kann.

Zu dieser Gruppe ist der Absender dieser Postkarte sicherlich nicht zu zählen. Warum „Fred“ nach Warschau gekommen war, schilderte er am 15. Januar 1944 seiner „Lieben“ auf der Rückseite:

„Meine Lieb, Bin in Warschau um 12 Uhr mittag gelandet mit 8 Stunden Verspätung und jetzt bin ich reif für das Lazarett wenn es mir so mis in Leipzig gewesen wäre, dann war ich noch zu Hause. Habe den Flieger Alarm in Halle noch mit gemacht bis 21 Uhr war ich in noch Halle. Alles Gute Dein Fred.“

Offensichtlich war „Fred“ ein Soldat, der aus Halle nach Warschau versetzt wurde, um die deutschen Truppen in der seit 1939 okkupierten polnischen Hauptstadt zu stärken. Die Verstärkung war auch dringend nötig. Der Aufstand im Warschauer Ghetto vom April 1943 und die beständigen Widerstandsaktionen der polnischen Untergrundarmee hatten die militärischen Schwächen der Besatzungsmacht offenbart. Tagtägliche Deportationen, Gruppenexekutionen und Verfolgungen waren die Folgen. Es ist davon auszugehen, dass „Fred“ nicht nur daran, sondern auch an der Niederschlagung des Warschauer Aufstands beteiligt war, der 6 Monate nach seiner Versetzung, im August 1944, ausbrach und das Leben von über 200 000 Menschen kostete. Durch die Kämpfe während des Aufstandes, vor allem aber durch die anschließenden gezielten Zerstörungsmaßnahmen der Besatzer gingen fast 80% der Warschauer Bausubstanz unwiderruflich verloren. Somit trug „Fred“ höchstwahrscheinlich aktiv dazu bei, dass das von ihm ausgesuchte Postkartenmotiv später in dieser Form nie mehr aufgenommen werden konnte.