Der Bau der Alexander-Nevskij-Kathedrale zwischen 1894 und 1900 auf dem Domberg in Reval (Tallinn) war eine politische Aussage. Jahrhundertelang war der Anblick des Berges von der auf seiner Kuppe gelegenen Domkirche geprägt gewesen, während von der Ebene der Stadt her der schlanke Turm der Nikolai-Kirche emporgeragt hatte – beides Kirchen, die auf Gründungen aus dem 13. Jahrhundert zurückgehen. Nun dominierte der geschlossene Kubus einer monumentalen orthodoxen Kirche den Berg und zog mit seinen Zwiebeltürmen und seiner reichhaltigen Ornamentik die Blicke auf sich. Die Abgrenzung von den mittelalterlichen Kirchenbauten, die seit dem 16. Jahrhundert protestantischen Gemeinden dienten, konnte stärker kaum sein. Stilistisch war die Alexander-Nevskij-Kathedrale in einem eklektischen Stil gebaut, der als „neorussisch“ oder auch als ‚pseudorussisch‘ bezeichnet wird und die Zeit vor der Herrschaft Peter des Großen evozieren sollte. Damit schien das Bauwerk auszudrücken, dass auch das Gouvernement Estland politisch wie kulturell eng mit dem russischen Kernland des Zarenreichs verbunden war.

Doch die neue architektonische Attraktion der Stadt konkurrierte auch auf einer anderen Ebene mit den altertümlichen Kirchen: Sie alle wurden zu populären Postkartenmotiven – und sind dies bis heute geblieben. Dabei fällt auf, dass die Sakralbauten in der Regel exklusiv präsentiert wurden: Wer einen Eindruck des russischen Revals verschicken wollte, konnte eine Karte mit der Alexander-Nevskij-Kathedrale kaufen; wem es um die deutsch geprägte mittelalterliche Stadt ging, wählte etwa eine Karte mit dem Bild des Doms oder der Nikolaikirche. Die Motive beim Kauf dürften vielfältig gewesen sein: Je nach Herkunft der Reisenden konnten die Bauwerke exotisch oder anheimelnd wirken, das Gefühl kultureller Zugehörigkeit oder Fremdheit hervorrufen, oder auch politisch gedeutet werden. Worin ihre Faszination bestand, lässt sich daher kaum einheitlich fassen. Für die Postkartenverlage und -verkäufer dürfte es auf jeden Fall ratsam gewesen sein, Karten mit allen diesen unterschiedlichen Motiven bereitzustellen.

Postkarten waren aber auch für die einheimische Bevölkerung ein Mittel der Selbstdarstellung. In Reval waren die Bewohner der Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehrheitlich estnisch und konnten durchaus eine eigene Sichtweise auf die symbolisch aufgeladenen Bauten haben. Im Extremfall erschienen sie als Symbole unterschiedlicher Unterdrückungssysteme: Die Domkirche und die Nikolaikirche standen dann für die jahrhundertealte ständisch geprägte deutsche Vorherrschaft im estnischen Siedlungsgebiet. Die Alexander-Nevskij-Kathedrale wiederum konnte als Symbol für die Versuche der zaristischen Zentralmacht stehen, im späten neunzehnten Jahrhundert die Kultur und Verwaltung in den Randgebieten des Reiches, zu denen das Gouvernement Estland gehörte, einheitlicher und russischer zu gestalten. In der jungen Estnischen Republik, die 1918 gegründet worden war, gab es daher 1924 sogar Bestrebungen, die Alexander-Nevskij-Kathedrale abzureißen. Aber spielten diese Konfliktlinien mehr als zehn Jahre später überhaupt noch eine Rolle?

Die hier präsentierte Postkarte weckt Zweifel daran. Sie lässt sich auf das Jahr 1936 datieren, stammt also aus den frühen Jahren des autoritären Regimes der Estnischen Republik unter Konstantin Päts. Das Fotopapier weist ein feines Seidenraster auf, was vermuten lässt, dass es sich um eine etwas kostspieligere Karte handelte. Unter den Ansichtskarten in der Sammlung des Nordost-Instituts (IKGN e. V.) sticht sie aber aus einem anderen Grund hervor: Obwohl die estnischsprachige Aufschrift nur auf die Alexander-Nevskij-Kathedrale verweist, zeigt die Abbildung auch die Nikolaikirche. Die gewählte Perspektive erweckt fast den Eindruck, die Sakralbauten stünden nebeneinander. Sie bilden das Zentrum einer Stadtansicht, die im Hintergrund von der Ostsee begrenzt wird. Fast möchte man behaupten, dass sie wie ein Ensemble erscheinen, das unterschiedliche Dimensionen der Geschichte Tallinns repräsentiert. Auf einen kulturellen oder politischen Konflikt weist hier, bei aller Dominanz der Alexander-Nevskij-Kathedrale, nichts hin. Dieser war, so könnte man es auffassen, zum Zeitpunkt der Aufnahme Vergangenheit. Denn die politischen Machtverhältnisse im Land hatten sich verändert. Wer nun das Sagen hatte, lässt sich der Rückseite entnehmen. Die Briefmarke ziert eine cyanblaue Zeichnung des estnischen Staatsoberhauptes Konstantin Päts. Unter diesen Umständen konnten die Gebäude herausgelöst aus vergangenen Machtkämpfen auch als Wahrzeichen einer estnischen Stadt gedeutet werden. Vielleicht ließe sich sogar die Perspektive der Fotografie in diesem Sinne deuten: Die alten Motive wurden offenbar vom „Langen Herrmann“ aus aufgenommen, jenem Turm der alten Burg also, der nun zum Ensemble des estnischen Parlaments gehörte und auf dem täglich die Flagge des estnischen Nationalstaats gehisst wurde. So zeugt die Ansichtskarte auch davon, wie politisch beladene Motive durch einen neuen Blickwinkel und eine neue Kontextualisierung ihre Semantik ändern konnten. Die Postkarte markiert damit einen erfolgreichen Aneignungsprozess.

Zu diesem Prozess trug mittelbar auch der Absender der Postkarte bei. Es handelte sich um einen Finnlandschweden, der seiner Mutter in Helsinki ganz unpolitisch von der Reise berichtete: Das Wetter war gut, die Straßen der Stadt schön, und auch mit der Gesundheit hatte er keine Probleme. Doch an den Schluss setzte er, ganz polyglotter Tourist, einen Abschiedsgruß in der Landessprache: nicht Russisch oder Deutsch, sondern Estnisch.