Beim ersten Blick auf die Ansichtspostkarte denkt der Betrachter vielleicht an das berühmte „Waldhotel“ im Lungenkurort Davos in den Schweizer Alpen, das für den Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann Pate stand. Tatsächlich aber befindet sich das Hotel in Lettland. Und nicht etwa auf dessen höchstem Berg, dem Gaising (lett. Gaiziņkalns) mit seinen gerade einmal 312 Metern, sondern dort, wo sich das ebene Land von seiner schönsten Natur zeigt, am Ostseestrand in Kemmern (lett. Ķemeri), etwa 50 km westlich von Riga an der kurländischen Küste, heute ein Ortsteil von Rigaer Strand (lett. Jūrmala).

Kemmern mit seinen Schwefelquellen und der heilsamen Luft umgebender Kiefernwälder war bereits seit über einhundert Jahren als Kurort bekannt, als der junge lettländische Staat hier 1935/36 für die damals enorme Summe von 2,5 Millionen Lat ein staatliches Hotel inmitten ausladender Parkanlagen errichten ließ. Schon bald hieß das Hotel mit seinem charakteristischen Turmbau und wehender lettischer Nationalflagge im Volksmund „das Weiße Schloss“ und machte diesem Namen alle Ehre. Entworfen hatte den Bau der berühmte lettische Architekt Eižens Laube (1880–1968), ein Vertreter des nordischen nationalromantischen Baustils in Lettland. Mit über 100 Zimmern, ausgestattet mit warmem Wasser, Telefon, Radio und Schrankbeleuchtung, einer großen Bibliothek mit Literatur in sieben Sprachen, einer Lobby mit wuchtigen Säulen, schweren Clubmöbeln und Teppichen, einem durch Säulenreihen dreigeteilten, riesigen Speisesaal und ausgeschmückt mit Schmuckfußböden, die lettische Volkskunst und lettische Frauen in Volkstrachten zeigten, entsprach das Hotel bei seiner Eröffnung 1936 durch den lettländischen Staatspräsidenten Kārlis Ulmanis (1877–1942) den damaligen Erwartungen an ein internationales Luxushotel.

Bereits ein Jahr später war das Hotel ausgebucht und entwickelte sich zu einem gefragten Treffpunkt für prominente Persönlichkeiten aus ganz Europa. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der sowjetischen Annexion des Landes blieben die Gäste aus dem Westen aus. Das Hotel wurde sowjetisches Prestige-Sanatorium. Hier arbeiteten mehr als einhundert Ärzte und erholte sich die politische Elite der Sowjetunion beim Schwefel- und Moorbaden. Ende der 1980er Jahre war das Gebäude heruntergekommen und ließ kaum noch etwas von seiner einstigen Pracht erahnen.

Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands wurde das in staatlichem Besitz befindliche Hotel 1996 privatisiert und an den arabischen Investor „Ominasis Latvia“ verkauft. Nachdem dieser 2013 in Insolvenz gegangen war, kursierte für kurze Zeit der Name „Kempinski“ als möglicher Interessent, doch dann erwarb Aleksandr Guskov aus Russland mit seiner Firma „Park Hotel Ķemeri GmbH“ die Anlage für 3 Mio. Euro. Er versprach, den Hotelkomplex in Zusammenarbeit mit der Gemeindeverwaltung von Jūrmala sorgsam zu rekonstruieren und dem Haus zu neuem internationalen Glanz zu verhelfen. Der neue Besitzer investierte bisher mehr als 35 Mio. Euro in die Rekonstruktion des Hotelgebäudes; aus Mitteln des Europäischen Strukturfonds werden der historische Park und die Außenanlagen erneuert. 2023 soll das Hotel als Fünf-Sterne-Anlage neu eröffnet werden – und wer weiß, vielleicht wird das „Weiße Schloss“ wieder seinem alten Ruf gerecht und ein neuer Hotspot für V.I.P.s aus aller Welt zwischen Ost und West.