Ethnisierung des Stalinismus? Die „nationalen“ und „Kulaken“-Operationen des NKVD: Ein Vergleich
Einleitende Bemerkungen
In der Stalinismusforschung hat sich in den letzten Jahren die These einer Ethnisierung des Stalinismus etabliert. Ihr zufolge habe das Stalinsche Regime nicht mehr nur Angehörige ausbeuterischer Klassen, sondern ethnische Gruppen und nationale Minderheiten als feindlich angesehen. Bei der Verfolgung von Feinden sei der biologische Rassenaspekt in der Stalin-schen Politik ausschlaggebender als soziale Aspekte geworden. Exponierte Vertreter der Theorie der Ethnisierung des Stalinismus sind der deutsche Historiker Jörg Baberowski und der amerikanische Historiker Timothy Snyder. Baberowski vertritt die These, die Stalinsche Führung habe die Bevölkerung nicht nur nach sozialen, sondern auch nach ethnischen Kriterien unterschieden. Es habe für sie also nicht nur Klassen, sondern auch Nationen mit unveränderlichen – revolutionären oder konterrevolutionären – Eigenschaften gegeben. Snyder wiederum konstatiert, dass eine Reihe der von den Organen des NKVD in den Jahren 1937/38 durchgeführten Massenoperationen einen eindeutig „ethnischen Charakter“ aufwiesen. Mit dieser Einschätzung steht er nicht allein. Die so genannten nationalen Operationen des NKVD während des „Großen Terrors“ gelten traditionell als Kulminationspunkt und zugleich Hauptbeleg für einen ideologischen Umschwung des Stalinschen Regimes vom Klassen- zum ethnischen Paradigma. Nach gängiger Sichtweise traten just im Zuge der nationalen Operationen Absurdität, Willkür und Blindheit des „Großen Terrors“ besonders deutlich zutage, als nicht mehr das Motiv der individuellen Schuld oder auch nur die soziale Herkunft über die Wahl der Opfer entschied, sondern einzig und allein deren Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, die das Zentrum unterdrücken wollte.
In der vorliegenden Arbeit unternimmt Andrej Savin den Versuch, die These einer Ethnisierung des Stalinismus auf Basis einer empirischen Untersuchung der so genannten nationalen Operationen des NKVD zu verifizieren. Dabei gilt sein Hauptaugenmerk der „deutschen“ Operation, deren konkrete Umsetzung in Sibirien analysiert und mit der so genannten Kulakenoperation nach Befehl Nr. 00447 verglichen wird. Nur durch einen solchen komparatistischen Ansatz, der die nationalen Operationen in den allgemeinen Kontext des „Großen Terrors“ einordnet, lässt sich das theoretische Konstrukt einer Ethnisierung des Stalinismus stützen oder widerlegen.
Auf Grundlage der Analyse der Ermittlungsakten der Opfer der nationalen Operationen, der internen Statistik und der Akten des NKVD schließt der Autor auf einen höchst komplexen und differenzierten Charakter der nationalen Operationen, deren tatsächliche Umsetzung vor Ort in vielerlei Hinsicht durch die geografischen und ökonomischen Besonderheiten der jeweiligen Region der UdSSR sowie durch die konkreten Siedlungsbedingungen (Streusiedlung oder kompakt besiedelte Gebiete) der als „schädlich“ wahrgenommenen nationalen Minderheiten abhing.
Offensichtlich kam es dort, wo die Organe des NKVD den Versuch unternahmen, „homogene moderne Landschaften“ zu schaffen (Jörg Baberowski), in der Tat zu einer pauschalen Massenvernichtung von Opfern nach dem Merkmal der Zugehörigkeit zu einer „konterrevolutionären“ Nationalität. Das betraf insbesondere die großen Städte, Rüstungsbetriebe, die Armee, den Staatsapparat sowie Orte, an denen die nationalen Minderheiten in Streusiedlungen lebten. Bei den Orten der Diasporagruppen mit kompakten Siedlungen hingegen, wo eine Verhaftung des gesamten ethnischen „Sonderkontin-gents“ physisch unmöglich und absurd war, stellte jede der „nationalen“ Operationen eher eine soziale Säuberung dar. Hier fand in der Regel eine Vorauswahl bzw. Selektion der Opfer statt, bei der eine „feindliche“ soziale Herkunft bzw. aktuelles notorisch antisowjetisches Verhalten das Hauptkriterium ausmachten. Die Selektion fand in der Regel auf Grundlage einer engen Zusammenarbeit der Organe des NKVD und des lokalen Partei- und Sowjetaktivs statt. Die von diesen gemeinsam bestimmten Opfer der deutschen Operation gehörten vor allem zu den folgenden „Risikogruppen“: Entkulakisierte und Vorbestrafte, Teilnehmer der Massenemigrationsbewegung der Sowjetdeutschen von 1929/30, Geistliche und aktive Gemeindemitglieder, Empfänger der „Hitlerhilfe“, Besucher der deutschen Konsulate. Vor diesem Hintergrund lässt sich allenfalls eine Tendenz zur Ethnisierung der Stalinistischen Strafpolitik konstatieren, die äußerst inkonsequent umgesetzt wurde und immer wieder Rückfälle zu traditionellen sozialen und politischen Motiven der Repression erlebte. Es bedurfte eines Ereignisses wie des Zweiten Weltkriegs, um massenhafte ethnische Deportationen ganzer Völker möglich zu machen.
Das Ausmaß der nationalen Xenophobie im 20. Jahrhundert diktiert den Historikern quasi eine universale Schablone für die Interpretation des Geschehenen und kann dazu verführen, einfache und „offensichtliche“ Lösungen zu suchen. Im Fall des „Großen Terrors“ besteht diese darin, 1937 zum Jahr der „sozialen Säuberungen“ und 1938 zum Jahr der „ethnischen Säuberungen“ zu erklären. Diese Folgerung aber lässt sich durch die Quellen nicht eindeutig bestätigen.
Andrej Savins Aufsatz erschien erstmals auf Russisch in der Zeitschrift „Rossija XXI“ (Mai/Juni 2012, Nr. 3). Der Historiker arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Sibirische Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften (Novosibirsk). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der nationalen und religiösen Minderheiten in der UdSSR, Stalinismus, sowjetisch-deutsche Beziehungen der 1920er und 1930er Jahre und die Breschnew-Ära. Savin gehört zu den besten Kennern der Geschichte der Russlanddeutschen in Sibirien und hat neben zahlreichen Aufsätzen zusammen mit Detlef Brandes die Monografie „Die Sibiriendeutschen im Sowjetstaat 1919–1938“ (Essen 2001) veröffentlicht.
Ethnisierung des Stalinismus?Die „nationalen“ und „Kulaken“-Operationen des NKVD: Ein Vergleich
Einleitung
In den letzten Jahren hat die These einer Ethnisierung des Stalinismus insbesondere in der westlichen Historiografie immer mehr an Zustimmung gewonnen. Ihre Anhänger vertreten die Ansicht, die Bolschewiki hätten in den 1930er und insbesondere in den 1940er Jahren anders als in den Jahren der Revolution, des Bürgerkriegs und der Neuen Ökonomischen Politik nicht mehr Angehörige fremder ausbeuterischer Klassen und Gruppen, sondern nationale Minderheiten und feindlich wahrgenommene ethnische Gruppen als ihre Hauptfeinde betrachtet. Auf diese Weise habe der biologische Rassenaspekt in der Stalinschen Politik Oberhand über soziale Aspekte gewonnen.
In besonders ausgeprägter Form findet sich die These der Ethnisierung des Stalinismus bei Jörg Baberowski, der den Standpunkt vertritt, die Stalinsche Führung habe die Bevölkerung nicht nur nach sozialen, sondern auch nach ethnischen Kriterien unterschieden. Es habe für sie also nicht nur Klassen, sondern auch Nationen mit unverwechselbaren Eigenschaften gegeben. Je „rückständiger“ eine Nation vor der Revolution gewesen sei, desto proletarischer und progressiver sei sie wahrgenommen worden und umgekehrt. Auf diese Weise hätten die östlichen bzw. orientalischen Nationalitäten als besonders revolutionär, die „westlichen“ (Deutsche, Polen, Juden) als besonders konterrevolutionär gegolten. „Nichts wäre also weiter von der Wirklichkeit entfernt als die Annahme, den Bolschewiki habe die Nation nichts bedeutet“, bemerkt Baberowski. Ihrer Vorstellung von der Nation als einer kulturellen Schicksalsgemeinschaft folgend, seien die Bolschewiki davon ausgegangen, dass es für die Angehörigen einer „konterrevolutionären“ Nation ebenso unmöglich war, ihre Nation zu einer „revolutionären“ zu machen, wie ehemalige Kulaken und Priester Proletarier werden konnten.
Ein weiterer exponierter Vertreter dieser Konzeption ist der amerikanische Historiker Tymothy Snyder, dessen Monografie zu den nationalsozialistischen und stalinistischen Massenverbrechen in Osteuropa international große Resonanz fand und in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurde. Bei der Beschreibung der vom NKVD in den Jahren 1937/38 durchgeführten Massenoperationen konzentriert sich Snyder vor allem auf die „polnische“ Operation, die er unter Verweis auf deren keinem Zweifel unterliegenden „ethnischen Charakter“ als „ethnischen Mord“ charakterisiert. Wie Jürgen Zarusky in seiner äußerst kritischen Rezension anmerkt, ist die „Ethnisierung von Stalins Verfolgungspolitik ein Hauptmerkmal von Snyders Buch“.
Als Kulminationspunkt und zugleich Hauptbeleg für einen solchen ideologischen Umschwung des Stalinschen Regimes vom Klassen- zum ethnischen Paradigma nennen die Anhänger der Ethnisierungs-These die „nationalen“ Operationen des NKVD während des „Großen Terrors“ sowie die ethnischen Säuberungen und Deportationen vor allem zur Zeit des Krieges. In der vorliegenden Arbeit soll der Versuch unternommen werden, die These der Ethnisierung des Stalinismus auf Basis einer konkreten historischen Untersuchung der so genannten nationalen Operationen des NKVD zu verifizieren. Dabei gilt unser Hauptaugenmerk der „deutschen“ Operation, deren konkrete Umsetzung in Sibirien analysiert und mit der so genannten Kulakenoperation – also der hinsichtlich ihrer Opferzahlen größten Operation des „Großen Terrors“ – verglichen werden soll. Nur durch einen solchen empirischen Ansatz „von unten“ lässt sich das theoretische Konstrukt einer Ethnisierung des Stalinismus stützen oder widerlegen.
In den Jahren 1937/38 wurden gegenüber einer Reihe nationaler Minderheiten groß angelegte Repressionskampagnen durchgeführt, denen nach letzten Schätzungen etwa 340 000 bis 350 000 Menschen zum Opfer fielen, davon etwa 140 000 im Zuge der „polnischen“ und etwa 55 000 im Zuge der „deutschen“ Operation. Nach gängiger Sichtweise traten Absurdität, Willkür und Blindheit des „Großen Terrors“ im Zuge der „nationalen“ Operation besonders deutlich zutage, als nicht mehr das Motiv der individuellen Schuld über die Wahl der Opfer entschied, sondern einzig und allein die Zugehörigkeit zu einer auf Beschluss des Zentrums zu repressierenden ethnischen Gruppe.
Argumente zur Untermauerung der These einer „Ethnisierung des Stalinismus“
Für diesen Standpunkt lassen sich in der Tat zahlreiche gewichtige Argumente finden, die im Folgenden angeführt werden sollen.
1. Die Vorstellung, dass bestimmte nationale Minderheiten einen ausgeprägt feindseligen bzw. konterrevolutionären Charakter aufwiesen, war innerhalb der Stalinschen Führung bzw. bei der politischen Polizei bereits in den 1920er Jahren ausgebildet und diente in den 1930er Jahren immer wieder der ideologischen Begründung ethnischer Säuberungen
Die Idee, dass die deutsche Diaspora als Basis für Spionage und Sabotagenetzwerke dienen könne, war in den höchsten Führungskreisen der OGPU (Ob‘‘edinennoe gosudarstvennoe politiceskoe upravlenie) bereits lange vor der nationalsozialistischen Machtergreifung und der daraus resultierenden Kriegsgefahr ausformuliert. Davon zeugen etwa das vom Stellvertretenden Vorsitzenden der OGPU der UdSSR G.G. Jagoda und dem Chef der Abteilung für Spionageabwehr (KRO) A.Ch. Artuzov gezeichnetes Zirkular Nr. 7/37 der OGPU „Zur deutschen nachrichtendienstlichen Tätigkeit und deren Bekämpfung“ vom 9. Juli 1924 sowie die aus einem Begleitschreiben und fünf analytischen Darstellungen bestehende Dokumentensammlung „Über die Aktivitäten der Deutschen in der UdSSR“, die die Mitarbeiter der Abteilung für Spionageabwehr unter Leitung Artuzovs auf Anfrage F.E. Dzeržinskijs vom 6. Juli 1925 zusammenstellten.
Beide Dokumente enthaltenen im Wesentlichen folgende Logik: Unter dem Schirm der Vereinbarungen von Rapallo habe der deutsche Nachrichtendienst unter Mithilfe reichsdeutscher nationalistischer Organisationen angefangen, auf dem Gebiet der UdSSR ungestraft Spionage- und Sabotagearbeit zu leisten. Als „Deckmantel“ nutze der deutsche Nachrichtendienst dabei die diplomatischen Vertretungen, karitative Organisationen und Konzessionsbetriebe. Dabei bilde die mehrere Millionen Menschen umfassende deutschstämmige Bevölkerung als Hauptquelle der Informationsbeschaffung einen idealen Nährboden für die deutschen Spionageaktivitäten. Die deutschen Kolonien stellten nach Einschätzung der Tschekisten nichts anderes als monarchistische Zellen innerhalb der UdSSR dar, auf die sich die antisowjetische Politik der reichsdeutschen nationalen Kreise (subversive Tätigkeit / Umsturz im Landesinneren) wesentlich stütze. Beide Dokumente zeichnen das Bild einer als Einheitsfront auftretenden, nationalistisch und profaschistisch gestimmten deutschen Bevölkerung der UdSSR, die der deutschen Spionage – insbesondere in der Wolgarepublik und in den ukrainischen und sibirischen Kolonien – eine „natürliche“ Basis biete.
Es fällt auf, dass in den Aufzeichnungen der Tschekisten an keiner Stelle von einer nennenswerten sozialen Differenzierung innerhalb der deutschen Bevölkerung die Rede ist. Artuzov hebt vielmehr explizit den homogenen Charakter der Kolonien hervor: „Die deutschen Kolonien in Russland stellen sowohl aufgrund ihrer hohen Bevölkerungszahl als auch aufgrund ihrer Sozialstruktur (kulakisch) und ihren politischen Bestrebungen (faschistisch-nationalistisch) eine große Gefahr dar, einerseits als dem Kommunismus und der UdSSR feindlich gesinnte Bevölkerungsschicht und andererseits als Gruppen, die danach streben, die nationalen Interessen Deutschlands unter den nat[ionalen] Minderheiten zu stärken“. Hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung der in der Ukraine lebenden deutschen Kolonisten ging Artuzov davon aus, dass „40-50% von ihnen Großkulaken, ehemalige Gutsbesitzer und Dorfintelligenz“ seien. Bei den übrigen handele es sich um starke Mittelbauern und zu 5-6% um arme Bauern, die aber ebenfalls unter dem „absoluten Einfluss des Kulakentums“ stünden.
So lagen nach Einschätzung der Führung der Abteilung für Spionageabwehr der OGPU alle Voraussetzungen vor, die die Spionagetätigkeiten von Seiten der Sowjetdeutschen begünstigten: eine zuverlässige Verbindung der Kolonien ins Ausland und zu den reichsdeutschen Konsulaten, der Bezug von Literatur, systematische Sendung von Berichten ins Ausland, Arbeit inoffizieller Vertreter der deutschen Konsulate in den Kolonistenrayons, systematische antisowjetische Agitation, offen konterrevolutionäre Aktionen usw. Eine besondere Gefahr ging nach Einschätzung Artuzovs im Kriegsfall von der Tatsache aus, dass sich die kompakten deutschen Siedlungen in grenznahen Zonen, wichtigen Industriezentren und fruchtbaren landwirtschaftlichen Gebieten befanden. Entsprechend pessimistisch klang Artuzovs Fazit: „Es steht außer Zweifel, dass die deutschen Nationalisten in Russland in allen Richtungen äußerst aktiv sind, und uns, was den Einfluss auf die deutschen Kolonien in der UdSSR betrifft, weit voraus sind. Letzterer (unser Einfluss) ist offensichtlich extrem schwach“.
Die Tatsache, dass das Konstrukt einer deutschen „Fünften Kolonne“ innerhalb der OGPU bereits Mitte der 1920er Jahre fertig ausgearbeitet war, spricht unmittelbar für die These einer Ethnisierung des Stalinismus. Die Tatsache, dass alle in den 1920er Jahren unternommenen Versuche, das deutsche Dorf mithilfe nationaler „Transmissionsriemen der Massen“ zu sowjetisieren, scheiterten, bestärkte die Stalinsche Führung lediglich in ihrer Überzeugung, dass die Sowjetdeutschen konterrevolutionär eingestellt waren. Besonders deutlich trat das Scheitern der Politik der „Indigenisierung“ / „Einwurzelung in Bezug auf die „Sowjetdeutschen“ dann zutage, als alle sozialen Schichten des deutschen Dorfes in Form der versuchten Massenemigration solidarischen Widerstand gegen die Kollektivierung leisteten.
Der Versuch zu rekonstruieren, welche Position der Volkskommissar für Innere Angelegenheiten N.I. Ežov – als einer der Hauptakteure des „Großen Terrors“ – in der Frage vertrat, inwieweit die „Sowjetdeutschen“ als „Fünfte Kolonne“ anzusehen waren, stößt auf das Problem, dass das entsprechende Archivmaterial nur sehr begrenzt zugänglich ist und die Forschung auf indirekte Hinweise angewiesen ist. Am 3. Dezember 1936 übte Ežov auf einer Sitzung des Führungspersonals des NKVD im Zusammenhang mit einer möglichen Neustrukturierung der Rayonsapparate der Verwaltung für Staatssicherheit (UGB) scharfe Kritik an den lokalen Abteilungen und vertrat die These, dass es überhaupt nur drei Arten von Rayons gebe, in denen die UGB eigene Rayonsabteilungen unterhalten müsse: grenznahe Rayons, Industrierayons und nationale Rayons. Gerade in „nationalen und in den größten Industrierayons“ sei es notwendig, „starke Apparate der UGB“ zu schaffen, um sicherzustellen, „dass wir uns auf diese Apparate wirklich stützen können“ Eine solche Aufmerksamkeit für die geografische Lage kompakter Diasporasiedlungen im Vorfeld der Massenoperationen spricht natürlich für sich. Auf der Sitzung der Führung des NKVD vom 16. Juli 1937 unterrichtete Ežov die Leiter der UGB nicht nur allgemein über die bevorstehenden Massenrepressionen, sondern sprach auch explizit die bevorstehenden Verhaftungen von „Charbincy“, Polen und Deutschen, an. Das lässt darauf schließen, dass die nationalen Operationen zeitgleich mit der Umsetzung des Befehls Nr. 00447 geplant wurden. Am 24. Januar 1938 wurde Ežov konkreter, als er bei seinem Auftritt vor den Volkskommissaren für Innere Angelegenheiten der Unions- und Autonomen Republiken und den Chefs der Regions- und Gebietsführungen und -abteilungen des NKVD der UdSSR ein Fazit der im Jahr 1937 durchgeführten Massenoperationen zog. In Zusammenhang mit der Frage einer möglichen Reform der Abteilung für Spionageabwehr (KРО) des NKVD äußerte er die Idee, eine eigene deutsche Abteilung zu gründen, die „für die Überwachung der Botschaft, der gesamten deutschen Kolonie und die Überwachung der gesamten deutschen Bevölkerung, d.h. der in der UdSSR bestehenden Basis für Spionageaktivitäten“, zuständig sein sollte. „Eine rein deutsche Linie von oben nach unten, die alle Deutschen, alle Kolonien, alle Botschaften und entsprechenden Organisationen erfasst, [sollte geschaffen werden]. Diese Abteilung muss natürlich unbedingt einen Ausgang ins Ausland haben“. Nach dem gleichen Muster plante Ežov auch die Gründung einer polnischen sowie weiterer, „nationaler“ Abteilungen. Angesichts solcher Äußerungen liegt die Annahme nahe, dass Ežov die deutsche Bevölkerung der UdSSR ganz im Geiste der „Aufzeichnungen Artuzovs“ als Basis für Spionage- und Sabotagetätigkeit ansah und keinen Zweifel am „konterrevolutionären Charakter“ der Deutschen hegte.
2. Zum Jahr 1937 war über das theoretische Konstrukt der „Fünften Kolonne“ hinaus auch die konkrete Praxis von Repressionsmaßnahmen gegen eine Reihe „feindlicher“ Nationen bereits fest etabliert
Was die „Sowjetdeutschen“ betrifft, ging die Massenkampagne zur Repressierung der Teilnehmer der Emigrationsbewegung von 1929/30 nahezu nahtlos in den Kampf gegen die Empfänger der so genannten Hitlerhilfe über. Infolge der Getreiderequisitionen war in den durch mehrere aufeinanderfolgende Missernten ohnehin geschwächten deutschen Dörfern eine Hungersnot ausgebrochen. Daraufhin war in Deutschland eine unter dem Namen „Brüder in Not“ organisierte Hilfskampagne für die Not leidenden Sowjetdeutschen ins Leben gerufen worden. Diese Hilfe aber wurde zum Auslöser einer weiteren antideutschen Strafaktion des NKVD, die sich gegen die Empfänger von Lebensmittelpaketen und Geldüberweisungen aus dem Ausland richtete, denen die Weitergabe von Informationen über die Notlage und den Hunger der Deutschen ins Ausland zur Last gelegt wurde.
Im Juli 1932 wurden die lokalen Organe der OGPU durch das Zirkular der OGPU der UdSSR „Über den Kampf gegen die Spionage- und Sabotagetätigkeit der deutschen Faschisten gegen die UdSSR“ angewiesen, die Überwachung der Sowjetdeutschen zu intensivieren. Im Einzelnen sollten sie alle Deutschen ermitteln, die in Korrespondenz mit Verwandten in Deutschland und in anderen Ländern standen, und die Beobachtung von in rüstungsrelevanten Bereichen der Industrie tätigen deutschen Spezialisten und deutschen Wehrdienstleistenden in der Roten Armee intensivieren. Als Hauptrichtung der antisowjetischen Aktivität der Sowjetdeutschen wurde die von diesen geführte offen faschistische Propaganda genannt, worunter sowohl der Vergleich der Lebensumstände in Deutschland und in der UdSSR, als auch die Verbreitung vorgeblich „faschistischer“ Literatur fiel.
Eine neue Qualität erreichten die gegen die Sowjetdeutschen gerichteten staatlichen Repressionen mit dem Telegramm des ZK der VKP(b) vom 5. November 1934, das die lokalen Parteiorganisationen und Organe des NKVD zur Einleitung von Strafmaßnahmen gegen „konterrevolutionäre und antisowjetisch eiпgestellte Elemente“ der deutschen Rayons aufforderte und ohne Zweifel einen maßgeblichen Beitrag zur endgültigen Herausbildung der Konzeption einer deutschen „Fünften Kolonne“ leistete. Unmittelbarer Auslöser für die Herausgabe des Telegramms war die Tatsache, dass die hungernde deutsche Bevölkerung der UdSSR humanitäre Hilfe aus dem Ausland erhalten hatte.
Im Januar 1935 berichtete G.G. Jagoda Stalin über die Ergebnisse des von den Organen des NKVD auf Grundlage der Direktiven des ZK der VKP(b) gegen die „faschistischen konterrevolutionären Organisationen“ geführten Kampfes. Nach Angaben Jagodas war die Tätigkeit der Organisationen „Brüder in Not“ und „Bund der Auslandsdeutschen“ unterbunden worden, deren Aktivisten den in der Ukraine, in der Region Nordkaukasus und in der Autonomen Republik der Wolgadeutschen (ASSR NP) lebenden Deutschen über 600 000 Mark und 14 500 Dollar hatten zukommen lassen. Insgesamt wurden im Rahmen der Repressionskampagne im Jahr 1934 etwa 4 000 Sowjetdeutsche verhaftet. In den Jahren 1934–1936 führten die Organe der Hauptverwaltung für Staatssicherheit (GUGB) des NKVD der UdSSR die groß angelegte Operation „Braunes Spinnennetz“ durch, in deren Verlauf alle Personen registriert wurden, die in irgendeiner Verbindung mit den reichsdeutschen diplomatischen Vertretungen standen. Obwohl auf diese Weise Hunderte Sowjetbürger deutscher Nationalität ins Blickfeld der Staatssicherheit gerieten, gelang es der Sonderabteilung der GUGB nicht, dieses mythische „illegale Zentrum der reichsdeutschen faschistischen Partei“ tatsächlich „zu entlarven [aufzudecken]“.
Nichtsdestotrotz deckten die Organe des NKVD in den Jahren 1935/36 eine Reihe großer „Spionagefälle“ auf, als deren Hauptbeschuldigte Sowjetdeutsche firmierten. 1935 „entlarvte“ das NKVD der UdSSR in der Region Azov-Černomorsk, in der Republik der Wolgadeutschen, in der Region Kujbyšev und in der Ukraine insgesamt 24 deutsche „Gruppierungen“. In der Autonomen Republik der Wolgadeutschen wurden im vierten Quartal 1935 im Zusammenhang mit den Fällen von fünf „faschistischen deutschen Organisationen“ und 17 Gruppen 218 Menschen verhaftet. Im Mai 1935 instruierte die Geheime Politische Abteilung (SPO) des NKVD in ihrem Zirkular „Über die deutsche faschistische Organisation in der UdSSR“ die lokalen Stellen unter Verweis auf die Rolle der in den deutschen Kolonien lebenden Bevölkerung als potenzielle Basis für Sabotage und Aufstandsakte dahingehend, antisowjetische Spionageorganisationen unter der deutschen Intelligenz aufzudecken. Im Juni 1936 fasste die Führung des NKVD den Beschluss, alle Verbindungen zwischen den reichsdeutschen diplomatischen Vertretungen in der UdSSR und den Sowjetdeutschen zu kappen. V.N. Chaustov weist darauf hin, dass es bei der Überwachung der reichsdeutschen Vertretungen Ende 1936 anders als in den Vorjahren nicht zuletzt darum ging, deren Mitarbeiter möglichst umfassend von den anderen Sowjetbürgern zu isolieren“. In der Literatur werden ferner einige Direktiven der GUGB des NKVD der UdSSR erwähnt, die zwar nie im Wortlaut veröffentlicht wurden, aber dennoch die Annahme nahelegen, dass die Sowjetdeutschen auch an dieser Stelle als potenzielle Basis für Aufstandsaktivitäten und Anwerbung von Spionen durch den deutschen Nachrichtendienst betrachtet wurden. So wird mit Bezug auf das erste erwähnte Zirkular daran erinnert, dass „Maßnahmen anvisiert seien, die Rechte von Sowjetbürgern ausländischer Herkunft einzuschränken“.
Die Praxis der gegen die Sowjetdeutschen gerichteten Repressionen war 1937 schon in einem solchen Maße etabliert, dass für die Durchführung der „Deutschen Operation“ in den Jahren 1937/38 nicht einmal die Herausgabe eines speziellen Befehls der Führung des NKVD der UdSSR vonnöten war. In den Berichten der Gebietsverwaltungen des NKVD der Ukraine, die Informationen über die Durchführung aller Massenoperationen einschließlich der nationalen Operationen enthalten, wird darauf verwiesen, dass die Repressionen im Rahmen der „deutschen“ Operation nicht nach Befehl Nr. 00439, sondern nach Befehl Nr. 00485 durchgeführt worden seien (also nach dem Befehl über die Durchführung von Repressionen gegen Polen).
Im Unterschied zur „polnischen“ Operation, für deren Begründung noch ein gesonderter Befehl des NKVD der UdSSR (Befehl Nr. 00485) sowie ein ausführliches begleitendes Instruktionsschreiben nötig gewesen waren, rief die Tatsache, dass fast die gesamte deutsche Bevölkerung der UdSSR zum Objekt von Repressionen erklärt wurde, aufseiten der Mitarbeiter des NKVD keine Fragen hervor. So schrieb T.U. Baranov im März 1939 an Stalin: „Abschließend möchte ich erklären, dass ich mich wie andere auch in Erinnerung an Ihre Worte über die faschistische Einkreisung immer an diese gehalten habe, also nicht nur das aktive feindliche Element auszuheben, sondern auch dessen Basis, die bei uns Deutsche, Polen, Charbincy und ähnliches Gesindel bilden, das sich noch versteckt hält, aber jederzeit bereit ist, zur Waffe zu greifen und gegen das Land des Sozialismus aufzutreten“.
3. Zahlreiche Aussagen überlebender Opfer und Mitarbeiter des NKVD sowie die Materialien der staatsanwaltlichen Überprüfungen stützen die Annahme, dass die pauschalen Massenverhaftungen von Angehörigen der nationalen Diasporagruppen ohne Vorliegen jeglicher kompromittierender Materialien erfolgte
1939 schrieb der Chef der Abteilung für Spionageabwehr des UNKVD des Gebiets Novosibirsk V.D. Kačurovskij an den Sekretär des Novosibirsker Gebietskomitees der VKP(b) G.A. Borkov: „Wie viele andere auch habe [ich] gehört, dass der Stellvertretende Volkskommissar [M.P.] Frinovskij vor Beginn der zweiten Operation (Frühjahr 1938) die Direktive ausgab, dass der für ein Objekt zuständige Mitarbeiter im Fall eines Sabotageaktes zusammen mit dem Saboteur die strafrechtliche Verantwortung trägt, wenn sich in dem betreffenden Rayon ein Linejnik aufhält, also ein Pole, Lette usw. Diese Direktive führte unmittelbar zu einer erheblichen Verschlechterung der Zusammensetzung der Verhafteten und der Qualität der Ermittlungen“. Nach Einschätzung Kačurovskijs habe die Aufgabe darin bestanden, „diesen Personenkreis hundertprozentig zu liquidieren“. Ohne Zweifel stellt Kačurovskijs Aussage ein besonders krasses Beispiel dar. Nichtsdestotrotz kann jeder, der sich die Mühe macht, die Aussagen der Mitarbeiter des NKVD zu sichten, die beschuldigt wurden, im Zuge der Re-pressionskampagnen gegen die sozialistische Gesetzesordnung verstoßen zu haben, mit geringem Aufwand und ausschließlich auf bereits veröffentlichte Dokumente gestützt eine Sammlung vergleichbarer Aussagen zusammenstellen.
Es ist anzumerken, dass die Tschekisten bei der Verteidigung ihrer im Zuge der Operation Nr. 00447 gegen „Ehemalige“ angewandten Aktionen und Methoden bereitwillig zugaben, gerade gegenüber den „Nationalen“ über die Stränge geschlagen zu haben. So schrieb der beschuldigte frühere hochrangige Mitarbeiter des UNKVD für die Region Westsibirien P.A. Egorov am 20. Dezember 1938 in einer Erklärung an Stalin: „Etwa bis Ende September oder Anfang Oktober 1937 trug die Operation ausschließlich den Charakter einer Zerschlagung aller konterrevolutionären Kader und betraf keine breiten Bevölkerungskreise. Von September an gingen in großer Zahl kategorische Forderungen ein, die Operationen zu intensivieren. In chiffrierten Telegrammen wurde befohlen, alle Überläufer, Polen, Letten, Iraner und alle ehemaligen Mitarbeiter der Ostchinesischen Eisenbahn (Charbincy) und andere zu verhaften.“
Während bei Egorov eine gesichtslose Kraft als Initiator der gegen die „Nationalen“ gerichteten Repressionen auftritt, lassen die Aussagen des früheren Mitarbeiters des Chefs der 11. Abteilung des UNKVD für die Region Krasnojarsk V.F. Pazin keinen Zweifel daran, dass die entsprechenden Direktiven von ganz oben kamen: „Auf den operativen Sitzungen beim Chef des UNKVD gab der Sekretär des Regionskomitees Sobolev die Direktive aus, alle Polen, Letten, Deutschen usw. zu verhaften“. Dabei habe S.M. Sobolev den Tschekisten erklärt, die Anweisungen Stalins weiterzugeben: „Wir haben jetzt lange genug Internationalismus gespielt, man muss all diese Polen, Koreaner, Letten, Deutschen usw. schlagen, das sind alles käufliche Nationen, die ausgelöscht gehören [...] Alle Nationalen müssen gefangen, auf die Knie gezwungen und wie tollwütige Hunde ausgelöscht werden“.
4. Besonderheiten der Durchführung der „nationalen“ Operationen, die die Kontrolle über die Organe des NKVD minimierten
Die nationalen Operationen unterschieden sich von den nach Befehl Nr. 00447 durchgeführten Operationen vor allem dadurch, dass es weder feste Opferquoten („Limits“) noch eine einheitliche Ordnung der Anklagen der Opfer gab. Wie heute als gesichert gelten kann, waren die berüchtigten „Limits“ an Personen, die erschossen oder zu Lagerhaft verurteilt werden sollten, nicht nur Resultat eines zynischen Handels zwischen dem Moskauer Zentrum und den lokalen Stellen, sondern zugleich auch eine Art Kontrollmechanismus vonseiten des Zentrums über Maßstab und Ausrichtung der im Rahmen des Befehls Nr. 00447 durchgeführten Repressionen. Die Tatsache, dass im Rahmen der „nationalen“ Operationen auf vom Politbüro des ZK der VKP(b) bestätigte „Limits“ verzichtet wurde, legt nahe, dass die Repressionstätigkeit der Organe gegenüber den Diasporagruppen keiner quantitativen Beschränkung unterlag.
Während die Urteile gegen die Opfer der nach Befehl Nr. 00447 durchgeführten Operation durch eigens geschaffene Trojkas gefällt wurden, wurden die Opfer der „Linien“-Operationen auch von einer Sonderberatung beim NKVD der UdSSR, vom Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR, von Militärtribunalen und Sonder-Trojkas (ab 17. September 1938) angeklagt. Es wird allgemein angenommen, dass die Mehrheit der „Nationalen“ von der Kommission des NKVD und der Staatsanwaltschaft der UdSSR in so genannter Album-Ordnung angeklagt wurde. Dieses im Rahmen der „nationalen“ Operationen erstmals vom NKVD praktizierte Verfahren sah vor, vor Ort nach Abschluss der Untersuchungen für jeden Verhafteten das anvisierte Strafmaß (Erschießung oder fünf bis zehn Jahre Lagerhaft) auf Karteikarten zu vermerken, alle Karteikarten in einer speziellen Liste (dem Album) zusammenzufassen und anschließend – vom regionalen UNKVD-Chef und dem Staatsanwalt unterschrieben (daher die in der Umgangssprache gebräuchliche, aber in der offiziellen Korrespondenz nicht zu findende Bezeichnung dieser Organe als „Dvojki“ [Zweiergruppe]) – nach Moskau zu schicken, wo der Volkskommissar für Innere Angelegenheiten der UdSSR und der Generalstaatsanwalt (N.I. Ežov, A.Ja. Vyšinskij) das endgültige Urteil fällten. In der Regel wurden die von den lokalen Stellen eingehenden Vorschläge in Moskau ohne sorgfältige Prüfung der Alben mechanisch abgenickt. Im Ergebnis ließ die allenfalls ephemere Kontrolle von oben bzw. genauer der Verzicht auf Kontrolle, den Organen des NKVD vor Ort freie Hand, die Repressionen der „Nationalen“ nach eigenem Gutdünken durchzuführen.
Gegenargumente
In ihrer Gesamtheit scheinen die oben angeführten Argumente eindeutig dafür zu sprechen, dass das Schicksal der Opfer der „nationalen“ Operationen durch das objektive Merkmal ihrer Zugehörigkeit zu einer „schädlichen“ nationalen Minderheit bestimmt wurde – und nicht etwa durch ihre soziale Vergangenheit oder notorisches antisowjetisches Verhalten in Vergangenheit oder Gegenwart. Nichtsdestotrotz wirft eine auf das betreffende Archivmaterial gestützte Analyse der „deutschen“ Operation in Westsibirien Zweifel an der Eindeutigkeit einer derartigen Interpretation auf.
In vielerlei Hinsicht lassen sich die Besonderheiten der „nationalen“ Operationen nur verstehen, wenn man diese mit der nach Befehl Nr. 00447 des NKVD der UdSSR vom 30. Juli 1937 gegen die „Ehemaligen“ und „andere konterrevolutionäre Elemente“ durchgeführten Operation vergleicht. Ein solcher Vergleich ist insofern gerechtfertigt, als kaum ein Historiker des „Großen Terrors“ anzweifelt, dass die nationalen Operationen sowohl was Maßstab und Methoden betrifft, als auch mit Blick auf die zeitliche Abfolge, sekundär waren, und die „Kulaken“-Operation als eine Art „Motor“ und Muster für die „nationalen“ Operationen anzusehen ist.
Noch vor Kurzem galt das der Feder des amerikanischen revisionistischen Historikers J. Arch Getty entstammende Bild eines „Verrückten, der von einem Turm aus wahllos in die Menge schießt“, als passende Metapher für die „Kulaken“-Operation. Dank der Forschung der letzten Jahre wurde dieses Bild des „exzessiven“ Terrors einer erheblichen Korrektur unterzogen, die sich schon nicht mehr ignorieren lässt. Nichtsdestotrotz bleibt die Versuchung groß, zwar das Jahr 1937 als Jahr einer vom Zentrum kontrollierten und nach den Maßstäben des Regimes rationalen „sozialen“ Säuberung zu sehen, die in erster Linie Bevölkerungsgruppen betraf, die schon immer im Fokus der bolschewistischen Repressionen gestanden hatten, aber 1938 zum Jahr einer ethnischen Säuberung zu erklären, bei der der Staat in der Tat wie ein Amokläufer das Feuer auf seine nationalen Diasporagruppen eröffnete, ohne sich darum zu kümmern, wen diese Kugeln trafen.
Das überaus komplexe und differenzierte Bild der „nationalen“ Operationen lässt sich nicht verlässlich zeichnen, ohne zu verstehen, dass deren konkrete Umsetzung durch die geografischen und ökonomischen Besonderheiten der jeweiligen Regionen der UdSSR sowie durch das Vorhandensein bzw. die Abwesenheit von Gruppen ethnischer „Sonderkontingente“ in diesen Territorien vorgegeben wurde. Bei der Einschätzung der von den Organen des NKVD im Rahmen der „nationalen“ Operationen durchgeführten Strafaktionen muss immer differenziert werden, ob diese an den Orten kompakter Siedlung der nationalen Minderheiten (nationale Dorfsowjets, Rayons, Autonome Gebiete, Republiken) oder an den Orten ihrer Diasporasiedlung durchgeführt wurden. Die „nationalen“ Operationen müssen ferner immer unter dem Blickwinkel der folgenden Gegensatzpaare betrachtet werden: 1) Stadt vs. Kolchosdorf; 2) Grenzgebiete vs. Gebiete im Landesinneren; 3) Gebiete mit rüstungsrelevanter Industrie vs. sonstige Gebiete; 4) Orte gemischter Besiedlung mit höherem Anteil der Titularnation (Russen) vs. mehrheitlich von nationalen Minderheiten bewohnte Gebiete.
Berücksichtigt man diese Faktoren, ist zu erkennen, dass es in hauptstädtischen, industriellen und grenznahen Regionen, in großen industriellen und „regimenahen“ Produktionsstätten, in Partei- und Sowjetorganen sowie in Militäreinheiten in der Tat zu einer Jagd nach Personen mit ausländischen Familiennamen und zur Aufspürung von „Nationalen“ nach Fragebögen von Behörden und Unternehmen kam, wobei sich der Strafeffekt unweigerlich potenzierte, wenn mehrere dieser Faktoren zusammenkamen. Offensichtlich lässt sich nicht leugnen, dass eine pauschale Massenvernichtung von Opfern nach dem Merkmal der Zugehörigkeit zu einer „konterrevolutionären“ Nationalität dort, wo die Organe des NKVD den Versuch unternahmen, „homogene moderne Landschaften“ zu schaffen (J. Baberowski), in der Tat stattfand. Wo solche Bedingungen vorlagen, konnte ein Befehl wie die folgende Anordnung Stalins an Ežov vom 20. Juli 1937 tatsächlich ausgeführt werden: „Alle Deutschen in unseren militärischen, halbmilitärischen und chemischen Fabriken, in Kraftwerken und auf Baustellen in allen Gebieten verhaften“. Hohe Risiken bestanden ebenfalls für kommunistische Politemigranten, Überläufer, ehemalige Kriegsgefangene Deutschlands und Österreich-Ungarns, Mitglieder ausländischer sozialistischer Parteien, frühere ausländische Staatsbürger, die in der UdSSR in der Industrie oder im Transportwesen arbeiteten, frühere Mitarbeiter vorrevolutionärer ausländischer Unternehmen oder sowjetischer Konzessionsbetriebe und „Nationale“, die der sowjetischen Militär-, Verwaltungs- und Wirtschaftselite angehörten. Diese wurden praktisch durchgängig repressiert. Diese Strafpraktiken fügen sich gut in die Theorie der „Ethnisierung“ des inneren Feindes.
Anders sah es aber in den kompakten Siedlungen der Diasporagruppen und insbesondere in den nationalen Rayons und Republiken aus, wo eine Verhaftung des gesamten ethnischen „Sonderkontingents“ physisch unmöglich und absurd war und jede der „nationalen“ Operationen vor allem eine soziale Säuberung im Geiste der nach Befehl Nr. 00447 durchgeführten Operationen darstellte.
Bildlich gesprochen wirkte jeder der nationalen Befehle wie ein Vergrößerungsglas, das die Aufmerksamkeit der Organe des NKVD für die konkrete nationale Gruppe schärfen sollte. Wer ohnehin im Fokus der Stalinschen Verfolgungspolitik stand, für den bedeutete die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit ein zusätzliches Risiko. Im Kern wirkten im Fall der Herausgabe jedes neuen „nationalen“ Befehls ähnliche Mechanismen wie bei der Schaffung neuer territorial-administrativer Einheiten im Zuge des „Großen Terrors“, als die Gründung neuer Regionen und Gebiete automatisch mit einer Verschärfung der Repressionen auf dem betreffenden Territorium einherging.
Die von uns durchgeführte Untersuchung der „deutschen“ Operation in Westsibirien und insbesondere in der Region Altaj und im Gebiet Omsk belegt, dass in den kompakten deutschen Siedlungen in der Regel eine zielgerichtete Vorauswahl der Opfer getroffen wurde, wobei diese Selektion in Zusammenarbeit mit dem Dorfaktiv von den gleichen Mitarbeitern des NKVD durchgeführt wurde, die parallel auch an der Umsetzung der „Kulakenoperation“ beteiligt waren. Kriterien für eine Verhaftung waren „Verbindungen zu Kulaken, Vorstrafen, schlechte Arbeitsleistung in der Kolchose, Beteiligung an antisowjetischen Aktionen, Zugehörigkeit zu religiösen Gemeinden bzw. Sekten“ usw. Es gibt keine seriöse Grundlage daran zu zweifeln, dass die Tschekisten im Zuge der „deutschen“ Operation just auf diese Weise agierten, auch wenn die selbst im Vergleich zur „gewöhnlichen“ Praxis der nach Befehl Nr. 00447 durchgeführten Operation bis zum äußersten vereinfachte Prozedur von Verhaftung und Aburteilung den Mitarbeitern des NKVD ohne Zweifel großen Raum für Missbrauch bot.
Es ist offensichtlich, dass die meisten Opfer der „Linien-“ Operationen in den nationalen Rayons jenen „Risikogruppen“ angehörten, die sich schon immer im Blickfeld der Organe der sowjetischen Geheimpolizei befunden hatten, und das Kriterium der sozialen Vergangenheit, auch wenn sich die Rolle blinden Zufalls und Willkür nicht ganz von der Hand weisen lässt, bei der Auswahl der Opfer entscheidend war. So gehörten die Opfer der „deutschen“ Operation in Westsibirien den folgenden „Risikogruppen“ an: Pfarrer, Presbyter und Prediger, Empfänger von „Hitlerhilfe“, Entkulakisierte und Vorbestrafte, Besucher reichsdeutscher Konsulate bzw. der Botschaft, Personen mit Verwandten im Ausland. Die Hauptrisikogruppe stellten unter den Sibiriendeutschen allerdings die Teilnehmer der Massenemigrationsbewegung der Jahre 1929/30 dar.
Welch herausragende Rolle der letztgenannte Faktor für die Umsetzung der „deutschen“ Operation in Westsibirien spielte, wird deutlich, wenn man deren Resultate in der Region Altaj und im Gebiet Omsk vergleicht, in denen 1937 jeweils etwa 30 000 Deutsche lebten. Während in der Region Altaj zwischen November 1937 und November 1938 nach unseren Berechnungen etwa 2 000 Deutsche verhaftet wurden, waren es im gleichen Zeitraum im Gebiet Omsk nur etwa 600. Ein solch großer Unterschied bei den Opferzahlen der „deutschen“ Operation lässt sich schwerlich durch höhere Blutrünstigkeit oder besonders ausgeprägten Deutschenhass unter den Altajer Tschekisten erklären.
Geht man allerdings davon aus, dass das Hauptziel des gegen die Deutschen gerichteten Terrors in den Jahren 1937/38 in der zielgerichteten Aufspürung und Vernichtung ehemaliger „Emigranten“ bestand, lässt sich diese Diskrepanz leicht dadurch erklären, dass just die Mennoniten des Altaj das Hauptkontingent der Emigrationsbewegung gestellt hatten: 1929 emigrierten aus der UdSSR 5 761 Personen, von denen 4 400 aus den deutschen Siedlungen in Westsibirien ausreisten, davon 3 800 aus dem Gebiet der künftigen Region Altaj und nur 250 aus dem Gebiet Omsk. Es ist also anzunehmen, dass es eben diese massenhafte Beteiligung an der Emigrationsbewegung war, die den Deutschen des Altaj zum Verhängnis wurde und den Tschekisten einen Vorwand lieferte, die Verhaftungen und Verurteilungen der Jahre 1937/38 gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Diese Kausalität geht auch aus dem bereits zitierten Schreiben T.U. Baranovs an Stalin hervor: „Die Emigration der Deutschen ins Ausland [war], wie bereits bewiesen wurde, das Resultat [ihres] Hasses auf die Sowjetmacht“. Ebendieser Baranov sagte am 24. Januar 1940 bei seiner Vernehmung aus: „Die Karteikarten und Haftbefehle wurden auf Grundlage dessen geschrieben, dass die zu verhaftende Person fremdnational war, sich 1929 an der Emigrationsbewegung beteiligt und 1933 Hitlerhilfe bezogen hat […] Darüber, dass die zu verhaftende Person Hitlerhilfe bekommen hat, war vor der Untersuchung nichts bekannt. Die Geldüberweisungen und Pakete aus Deutschland liefen über das deutsche Konsulat in Novosibirsk, außerdem wurde durch die Untersuchung aufgeklärt und bestätigt, dass es sich bei dieser Hilfe eben um Hitlerhilfe gehandelt hat […] So wie sich die Dinge zu jener Zeit darstellten, ging ich davon aus, dass dies im Sinne einer Säuberung des Rayons von Personen der als Sonderkontingent eingestuften deutschen Nationalität genau so sein sollte. Heute aber, seit August 1939, jetzt wo ich mich in Haft befinde, habe ich mich vollständig davon überzeugt, dass dies auf keinen Fall so hätte gemacht werden dürfen und die revolutionäre Gesetzesordnung durch diese unbegründeten Massenverhaftungen schwer pervertiert wurde“.
Die Aussagen der angeklagten Mitarbeiter des UNKVD der Region Altaj enthalten interessante Hinweise auf einen Fall, in dem eine zielgerichtete Selektion nicht vor, sondern erst nach den Verhaftungen durchgeführt wurde. So sei in der Zeit vom 20.–23. Juni 1938 der Chef der 3. Abteilung (Abteilung für Spionageabwehr) des UNKVD für die Region Altaj Oberleutnant der Staatssicherheit I.K. Lazarev zur Inspektion in den kompakt von Deutschen besiedelten Rayon Novo-Kievskij (Kulunda) der Region Altaj gekommen. Vor seiner Ankunft hätten die Mitarbeiter der Rayonsabteilung des NKVD innerhalb einer Nacht für alle etwa 150 deutschen Verhafteten Listen mit „Charakteristika ihrer praktischen konterrevolutionären Tätigkeit“ zusammengestellt, in denen aufgrund der Aussagen der Verhafteten deren soziale Stellung, Beteiligung an der Emigrationsbewegung von 1929 und Bezug von „Hitlerhilfe“ in den Hungerjahren 1933/34 erfasst wurden. Die Zahl der „Emigranten“ und „Hilfsempfänger“ habe bei etwa 60 Personen gelegen. Nach Durchsicht der Liste habe Lazarev befohlen, die Verfahren gegen diese 60 Personen fortzusetzen und die übrigen 90 nach und nach freizulassen, was dann auch so gemacht worden sei. Diese Anordnung rief bei den Mitarbeitern der Rayonsabteilung des NKVD wenig Begeisterung hervor, da sie die bereits abgeschlossenen Untersuchungsakten entsprechend umschreiben mussten. Aus dem Gefängnis der Stadt Slavgorod, wo weitere 150 von der Novokievsker Rayonsabteilung des NKVD verhaftete Deutsche inhaftiert waren, ließ Lazarev ebenfalls etwa die Hälfte entlassen. In Haft blieben auch in diesem Fall die Teilnehmer der Emigrationsbewegung und Empfänger von „Hitlerhilfe“.
Wenn wir die These aufstellen, dass das rationale Moment bei den vom NKVD im Rahmen der „deutschen“ Operation durchgeführten Aktionen erheblich größer war als bislang angenommen, soll damit keineswegs bestritten werden, dass der Grad des Rationalen selbst in den kompakten Siedlungen nationaler Minderheiten je nach den konkreten Bedingungen vor Ort stark variieren konnte. Ein Faktor, der erheblichen Einfluss auf den Verlauf eines Verfahrens haben konnte, war die den Organen zur Verfügung stehende Zeit. So wurden im Rahmen des berüchtigten, von der 3. Abteilung (Spionageabwehr) des UNKVD für die Region Altaj fabrizierten „Slavgoroder Falls“ in der Zeit vom 19.–21. Dezember 298 Deutsche verhaftet und bereits wenige Tage später (29. Dezember 1937) ausnahmslos alle von der Trojka beim UNKVD für die Region Altaj zum Tod durch Erschießen verurteilt. Es ist offensichtlich, dass sowohl der Maßstab des Falles als auch das Tempo und die beispiellose Härte der Urteile dadurch zu erklären ist, dass alle Akteure unter großem Zeitdruck handelten, nachdem der Volkskommissar für Innere Angelegenheiten der UdSSR N.I. Ežov in seiner Direktive Nr. 50104 vom 11. Dezember 1937 die Fristen für den Abschluss der nationalen Operationen und die entsprechende Berichterstattung auf 1. Januar bzw. 15. Januar 1938 festgesetzt hatte.
Doch selbst in diesem Fall legen die von den Mitarbeitern des UNKVD der Region Altaj 1939/40 gemachten Aussagen nahe, dass die Verhaftungen der im „Slavgoroder Fall“ angeklagten Deutschen von den Mitgliedern der operativen Sonderbrigade des UNKVD nicht blind durchgeführt wurden, sondern sich an Listen orientierten, die ihnen der Chef der deutschen Rayonsabteilung des NKVD K.G. Kester ausgehändigt hatte. Angesichts dessen, dass Kester ein gut informierter Experte für das deutsche „Sonderkontingent“ war, ist davon auszugehen, dass die in den entsprechenden Proskriptionslisten aufgelisteten Personen ihre Illoyalität gegenüber dem Regime demonstriert oder notorisch abweichlerisches Verhalten an den Tag gelegt hatten.
Im Endeffekt stellte jede einzelne der nach nationalen Linien durchgeführten Operationen ein überaus kompliziertes und ambivalentes Phänomen dar. Zu unterscheiden ist dabei zwischen pauschaler Repressierung ausschließlich auf Grundlage der nationalen Zugehörigkeit oder eines ausländisch klingenden Namens – wie es insbesondere in großen Städten (die Verwaltungs- und Industriezentren darstellten und zugleich eine nationale Streusiedlung aufwiesen) praktiziert wurde, und Repressionen gegen unterschiedliche Arten von „Ehemaligen“, Gläubigen, oppositionell eingestellten Personen und tatsächlichen Gegnern und Kritikern des Stalinschen Regimes, die in den kompakten Siedlungen der Diasporagruppen vorherrschten, wo „sehender“ Terror über blinde Repression dominierte.
Schlussfolgerung
Sowohl die Praxis, „unzuverlässige Völker“ zu inneren Feinden bzw. zur „Fünften Kolonne“ zu erklären, als auch die Entwicklung der Nationalitätenpolitik des Stalinschen Regimes in den 1930er Jahren vom Internationalismus weg in Richtung Russifizierung und Nationalbolschewismus sprechen grundsätzlich für die Theorie einer „Ethnisierung des Stalinismus“. Analysiert man allerdings, wie die „deutsche“ Operation als eine der umfassendsten „nationalen“ Operationen des NKVD vor Ort umgesetzt wurde, zeigt sich nichtsdestotrotz, dass in den Jahren 1937/38 die Kraft der Klassendogmen und der Nachhall der seit 1917 durchgeführten sozialen Säuberung der Gesellschaft zu groß waren, um in erheblichem Maße durch pauschale Repression nach ethnischen Kriterien ersetzt zu werden. Im Endeffekt waren bei der Auswahl der meisten Opfer der „nationalen“ Operationen Kriterien der „feindlichen“ sozialen Vergangenheit bzw. Herkunft und eines notorischen „antisowjetischen“ Verhaltens bestimmend. Es bedurfte eines Ereignisses wie des Großen Vaterländischen Kriegs, um massenhafte ethnische Deportationen ganzer Völker möglich zu machen. Generell aber kann man sich der Einschätzung Jürgen Zaruskys anschließen: „Natürlich waren nicht wenige ethnische Minderheiten in der Sowjetunion stalinistischer Xenophobie und kollektiven Spionage- oder (im Krieg) Kollaborationsverdächtigungen ausgesetzt, die zu selektiven oder pauschalen Repressionen führten. Aber das war bei weitem nicht dasselbe wie die nationalsozialistische Klassifizierung und Behandlung von Völkern und Ethnien als inferiore Rassen.“
Eine feindliche Haltung gegenüber nationalen Minderheiten, ethnische Säuberungen und durch ethnopolitische Überlegungen motivierte Zwangsumsiedlungen waren Phänomene, die im 20. Jahrhundert nicht nur in der UdSSR, sondern überall auf der Welt weite Verbreitung fanden. Allein in Europa waren 80 Millionen Menschen Opfer ethnisch motivierter Zwangsumsiedlungen. Ein solches Ausmaß der nationalen Xenophobie diktiert den Historikern quasi eine universale Schablone zur Interpretation des Geschehenen und kann dazu verführen, einfache und „offensichtliche“ Lösungen zu suchen. Im Fall des „Großen Terrors“ besteht diese darin, 1937 zum Jahr der sozialen und 1938 zum Jahr der ethnischen Säuberung zu erklären. Aber dieses abstrakt-logische Konstrukt lässt sich durch die Quellen nicht eindeutig bestätigen. Allenfalls lässt sich von einer Tendenz zur Ethnisierung der Stalinistischen Strafpolitik sprechen, die äußerst inkonsequent, instabil und in die Länge gezogen war und immer wieder Rückfälle zu traditionellen sozialen, klassenbezogenen und politischen Motiven der Repression erlebte.
Aus dem Russischen übersetzt von Lars Nehrhoff, Köln