„Ostforschung“ und Holodomor: Traditionen und Strategien der deutschsprachigen Historiographie
Vasyl’ Maročko: „Ostforschung“ und Holodomor: Traditionen und Strategien der deutschsprachigen Historiographie
Ziel des Artikels ist es, die historiographische Tradition der „Ostforschung“, ihre konzeptuelle Entwicklung und ihre heutigen intellektuellen Strategien zur Diskussion zu stellen sowie die Besonderheiten der deutschsprachigen Historiographie zum Holodomor aufzuzeigen. Die Methodologie der Forschungsarbeit stellen allgemeine und spezielle wissenschaftliche Ansätze dar (grundlegend sind dabei vergleichend-historische, interdisziplinäre sowie problem-/thematischbezogene Ansätze). Das wissenschaftliche Novum besteht darin, dass wesentliche Entwicklungsstufen der Funktionsweisen der „Ostforschung“ als einer wissenschaftlichen Forschungsrichtung rückblickend sowie die intellektuelle Strategie bei der Erforschung des Holodomor durch deutsche Wissenschaftler herausgearbeitet werden sollen. Schlussfolgerungen: Bis Mitte der 1980er Jahre war das Thema Holodomor für die deutsche Geschichtswissenschaft eher von untergeordneter Bedeutung. Ihr wissenschaftliches Desinteresse war durch mehrere Umstände bedingt: durch eine relative Idealisierung der Sowjetunion seitens der Begründer der „Ostforschung“, durch eine einheitliche Sicht auf sowjetische Geschichte, durch eine Ideologisierung des wissenschaftlichen Diskurses der „Ostforschung“ seitens der Nationalsozialisten mit akzentuiertem Antisemitismus und anderen Chauvinismus-Formen, durch eine Sensibilisierung für die eigene historische Schuld am Holocaust seitens einiger deutscher Politiker und Wissenschaftler, durch den Vergleich des Holocaust mit der Massenvernichtung europäischer Völker im 20. Jahrhundert sowie durch den Einfluss der „Russlandzentriertheit“ in den Darstellungen osteuropäischer Geschichte. Es wird darauf verwiesen, dass der „ukrainische Holodomor“ in der deutschen Historiographie im Kontext einer „die gesamte Sowjetunion betreffenden Hungersnot“, stalinistischer politischer Repressionen, einer kritischen Haltung gegenüber der Geschichts- und Erinnerungspolitik in der Ukraine und gegenüber den Grundlagen der ukrainischen Gesetzgebung zur Anerkennung des Holodomor als Genozid beschrieben wird. Zu den bisherigen intellektuellen Leistungen deutscher Wissenschaftler gehören dutzende Artikel sowie eine Sonderausgabe der Zeitschrift Osteuropa (12/2004). Es fehlt zwar weiterhin an Monographien, doch es sind auch hier wissenschaftliche Fortschritte zu verzeichnen. Während in der aktuellen Geschichtsschreibung zum Holodomor Ideologeme der „Ostforschung“ aus der Zeit des „Kalten Krieges“ nicht mehr zu finden sind, haben sich Merkmale einer „Russlandzentriertheit“ im Erforschen der osteuropäischen Geschichte im 20. Jahrhundert erhalten. In den letzten 20 Jahren verfassten Wissenschaftler aus Deutschland bedeutend mehr Untersuchungen über den organisierten Hunger in der Ukraine als im Rahmen der „Ostforschung“ in allen vorangegangenen Jahren zusammen. Die akademische Erschließung der Ursachen und Folgen des Holodomor verläuft bedeutend konstruktiver als seine allgemeine Einordnung und die rechtliche Beurteilung.
Schlüsselwörter: Ukraine, deutschsprachige Historiographie, Holodomor, Genozid, „Ostforschung“, Holocaust, Nationalsozialisten, Osteuropastudien.
Im Jahre 2013 jährte sich die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) (im Original ukrainisch und deutsch – Red.) und des wissenschaftlichen Forschungsbereiches „Ostforschung“ (Osteuropaforschung; im Original deutsch – Red.) zum einhundertsten Male. In Erinnerung an das Jubiläum nannte der Historiker Karl Schlögel die DGO ein „Kind der Wissenschaft und Politik“. In einer Jubiläumsausgabe werden wissenschaftlich-institutionelle und theoretische Grundlagen der Osteuropastudien und sogar Probleme der doppelten Nische der deutschen Historiographie zu osteuropäischen Juden kritisch reflektiert. Jedoch gab die Zeitschrift Osteuropa zum 80. Jahrestag des Holodomor keinen einzigen Artikel über diese Tragödie der Ukrainer heraus. In den fast zehn Jahren, die seitdem vergangen sind, sind Artikel und Monographien erschienen, die es nun zu analysieren gilt.
Der Begriff „deutschsprachige Historiographie“ umfasst die wissenschaftlichen Zentren und die Wissenschaftler mehrerer europäischer Länder: Deutschland, Österreich und die Schweiz. Der Historiker Guido Hausmann spricht bei der Analyse der Quellen zum Holodomor in der Ukraine von einer „deutschsprachigen Historiographie“ (im Original deutsch – Red.). Da in seinem Artikel aber eine ganze Reihe englischsprachiger Arbeiten zur Diskussion gestellt werden, lässt sich dieser in den breiteren Diskurs („internationale historische Forschung“, im Original deutsch – Red.) besser einordnen.
Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind die bisherigen und heutigen Komponenten der Osteuropastudien in Deutschland, die Veränderungen konzeptueller Denkansätze unter den Bedingungen einer Globalisierung des intellektuellen Raums, die entwicklungsgeschichtliche Überwindung konservativer Diskurse der „Ostforschung“, theoretische Besonderheiten und thematische Schwerpunkte der Letzteren. Der inhaltliche Fokus liegt auf der Methodik „deutschsprachiger Historiographie“, ihren Traditionen und modernen intellektuellen Strategien, auf der Intensität, mit der die Geschichte des Holodomor wissenschaftlich untersucht wird, den Unterschieden zwischen modernen Ukrainestudien (im Original deutsch: Ukrainekunde – Red.) und den Ideologemen der „Sowjetologen“ der 1950er bis 1970er Jahre, welche das politische Projekt der „Ostforschung“ personifizierten.
Der intellektuelle Drang nach Osten (im Original deutsch – Red.) kam in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre und des ersten Drittels der 1930er Jahre auf, nachdem die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, die Zeitschrift Osteuropa sowie der Osteuropa-Verlag (im Original deutsch – Red.) ihre Tätigkeit aufnahmen. Sie gaben bibliographische Kataloge wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Literatur über die UdSSR, unter anderem über die Entwicklung der sowjetischen Geschichtswissenschaft, heraus. Heutzutage verbinden Historiker aus Deutschland die aktive Phase der Tätigkeit der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde und der Zeitschrift Osteuropa mit dem „selbstlosen“ Professor Otto Hoetzsch (Reichstagsabgeordneter für die Deutschnationale Volkspartei). Er untersuchte die Reformen Alexanders II. und die Tätigkeit des russischen Politikers Sergej Vitte (Witte). Hoetzsch interessierte sich für die klassische Landeskunde sowie systembezogene und interdisziplinäre Ansätze der sozialpolitischen Geschichtsschreibung. Er traf sich persönlich mit sowjetischen Wissenschaftlern, Filmregisseuren und Politikern. Im Frühjahr 1933, als in der Ukraine durch die organisierte Hungersnot Millionen ukrainischer Bauern umkamen, hielt sich Otto Hoetzsch in Kyjiv auf und verkehrte dort mit dem deutschen Konsul Andor Hencke, welcher den Professor für „einen der führenden deutschen Osthistoriker“ und für einen „konservativen Politiker“ hielt. 1934 besuchte auch Klaus Mehnert, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde und Osteuropa-Redakteur von 1931 bis 1933 sowie einer der Begründer der „Ostforschung“, Kyjiv. Von 1934 bis 1936 arbeitete er als Korrespondent für deutsche Zeitungen in Moskau. Er war bemüht, sich an den Grundsatz „wissenschaftlicher Objektivität“ zu halten. Seine Artikel in der Kölnischen Zeitung und in der Frankfurter Zeitung waren Joseph Goebbels ein Dorn im Auge.
Der Sieg der Nationalsozialisten 1933 machte die „Ostforschung“ zu einem Propagandainstrument ihrer ideologischen und sozial-anthropologischen Vorlieben. Die Gründer der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde wurden von den Nationalsozialisten zum Zentrum einer „liberalen Sowjetkunde“ und zum „Salon des Bolschewismus“ erklärt. 1934 endete de facto die erste Phase in der Entwicklung des wissenschaftlichen Bereichs „Ostforschung“, für welchen die klassischen Merkmale einer historischen Schule (Konzeption, Betreuung des wissenschaftlichen Nachwuchses, Printmedien, Diskussionen) kennzeichnend waren. Otto Hoetzsch verließ Deutschland, viele seiner Kollegen kamen in Gestapogewahrsam und in den Konzentrationslagern ums Leben.
Die neue politische Führung Deutschlands erfuhr vom Holodomor in der Ukraine durch die eigenen Diplomaten und aus der westlichen Presse sowie aus der Pressekonferenz des britischen Journalisten Gareth Jones in Berlin. Die deutschen Historiker Guido Hausmann und Tanja Penter, deren Artikel 2020 veröffentlich wurde, widersprechen dem nicht. Um Stalin zu besänftigen, verschwieg das offizielle Europa den Holodomor in der Ukraine, während liberale und konservative Politiker die „Brüderschaft“ zwischen beiden Diktatoren verfolgten. Während der zweiten Phase der Entwicklung der „Ostforschung“, welche in den Zeitraum 1935 bis 1945 fiel, nutzte man ihr intellektuelles Potenzial zur Begründung von Ideologie und Praxis des „Lebensraums im Osten“ (im Original deutsch – Red.). Manche russischen Forscher nennen heutzutage diese Phase die „nationalsozialistische ‚Ostforschung‘“, deren vorrangige Merkmale die folgenden waren: Antibolschewismus, die jüdische und die slavische Fragen, der sozialanthropologische Typ „reinrassiger Arier“, die mentale Kartographie der östlichen Territorien, Militärgeschichte, das Schicksal der deutschen Minderheit in der UdSSR. Einige deutsche Zeitungen schrieben damals über die Hungersnot in der Ukraine. In Österreich, wo ebenfalls Deutsch gesprochen wird, wurden Bücher verlegt, und es kam zu öffentlichen Protesten, in denen das Thema Holodomor zur Sprache kam. Der bekannte Historiker Andreas Kappeler publizierte 2020 einen Artikel zu den Veröffentlichungen in der österreichischen Presse über den Holodomor. Die nationalsozialistische Führung in Deutschland interessierte sich für die sozioökonomischen und demographischen Folgen des Holodomor in der Ukraine, weswegen ihre Diplomaten einschlägige Informationen unterschiedlichen ukrainischen Quellen entnahmen.
In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre befasste sich die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde mit der Erforschung der „Ostfrage“, der soziopolitischen Situation in den Nachbarländern, wovon Texte der Zeitschrift Osteuropa aus dem Zeitraum 1933 bis 1939 sowie Archivquellen, die von zeitgenössischen deutschen Historikern in Moskau entdeckt wurden, ein Zeugnis ablegen. Die Artikel wurden von Otto Schiller, Otto Auhagen, dem Orientalisten Bertold Spuler u.a. verfasst. Sie lassen sich als historiographische Quellen qualifizieren, jedoch verlor damals die „Ostforschung“ ihr akademisches Gepräge und verwandelte sich in ein ideologisches Propagandainstrument des Nationalsozialismus.
Guido Hausmann vertritt die Auffassung, dass gerade in den Jahren der deutschen Okkupation die ersten Untersuchungen zum Holodomor entstanden, die von den Nationalsozialisten zu Propagandazwecken missbraucht wurden. Karl Stumpp untersuchte die soziodemographischen Folgen der Hungersnot in den deutschen Siedlungen in der Ukraine. Von November 1941 bis Dezember 1942 leitete er ein Sonderkommando der Heeresgruppe „Süd“. In den Jahren 1940 bis 1945 ermittelten die wissenschaftlich-analytischen Abteilungen des Einsatzstabs Rosenberg zur Erforschung des „Lebensraums im Osten“ die Zahl der Opfer. Deren Schlussfolgerungen wurden 1942–1943 in ukrainischer Sprache in regionalen Zeitungen gedruckt, deren Autoren ehemalige sowjetische Demographen und Statistiker waren.
Nachdem es eine vernichtende Niederlage sowie moralische und psychologische Erniedrigung über sich hatte ergehen lassen müssen, lag das Nachkriegsdeutschland in Ruinen. Im Frühling 1946 kehrte Otto Hoetzsch aus der Emigration zurück und regte ein wissenschaftliches Forschungsprojekt zu den osteuropäischen Ländern im weltgeschichtlichen Kontext, in dessen Rahmen mit interdisziplinärer Methodik und vergleichender Analyse gearbeitet werden sollte, an. Sein Tod jedoch setzte seinen kreativen Vorhaben ein jähes Ende. Die heiße Phase der kriegerischen Auseinandersetzungen endete, und die Alliierten von gestern versanken in eine sich in die Länge ziehende Phase des sog. Kalten Krieges. Die westlichen politischen Zentren nutzten die „Ostforschung“ zu eigenen Zwecken und wiederbelebten deren Rolle und Stellung im ideologischen Kampf gegen den Kommunismus. Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa war im Zeitraum 1951 bis 1971 eben jener Klaus Mehnert, dessen zwei Brüder an der Ostfront gefallen waren. Dietrich Beyrau vertritt die Meinung, dass der Beginn des „Kalten Krieges“ bei der „osteuropäischen Geschichte“ (im Original auch deutsch – Red.), deren Entwicklung durch das nationalsozialistische Regime unterbrochen worden war, für neuen Auftrieb sorgte. Sein Kollege Guido Hausmann, der auf das mangelnde Interesse deutscher Wissenschaftler an der Geschichte des Holodomor verweist, hebt dabei zwei Faktoren für diese Zurückhaltung hervor: die „nationalsozialistische Instrumentalisierung“ des Problems als Mittel antisowjetischer Propaganda sowie das Erkennen der Schuld am Holocaust durch die deutsche Elite. Das Holodomor-Thema wurde zwar in der Tat im nationalsozialistischen Deutschland thematisiert, jedoch ist es für die Nationalsozialisten nicht zum „Instrument“ aktiver antisowjetischer Propaganda geworden. Auch in den in den 1950er Jahren erschienenen Memoiren deutscher Diplomaten, die die deutsch-sowjetischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit beschrieben, war die Hungersnot nicht zur Sprache gekommen. Außer dem Verschulden am Holocaust existierten dafür offenbar noch andere Gründe. Nicht zufällig setzen sich polnische Forscher heutzutage verstärkt damit auseinander, wie das System „Ostforschung“ funktioniert hatte.
Für die deutsche Historiographie in den 1950er bis 1970er Jahren stellte die Problematik des Holodomor, die Otto Schiller 1933 die „sogenannte Hungerpeitsche“ (im Original auch deutsch – Red.) nannte, keinen intellektuellen Anreiz dar. Die deutschen Wissenschaftler gehörten nicht zu den aktiven „Fälschern“ ukrainischer Geschichte, da sie sich nicht mit dem Thema des künstlich herbeigeführten Hungers befassten. Die Ursache hierfür liegt nach der Überzeugung von Hausmann in der „Russlandzentriertheit“ der deutschen historischen Osteuropaforschung (im Original auch deutsch – Red.). Ihre vorherrschende Stellung auf mentaler und intellektueller Ebene machten eine konsequente Auseinandersetzung mit dem Holodomor durch deutsche Wissenschaftler unmöglich. Auch die tragischen Folgen des Krieges spielten dabei eine Rolle.
Zu Beginn der 1980er Jahre wurden in amerikanischen Periodika hunderte von Artikeln über den künstlichen Hunger in der Ukraine veröffentlicht, während sich die westdeutsche Presse mit einigen wenigen Publikationen in der Süddeutschen Zeitung und in der Zeitung Die Welt begnügte. Diese Zeitungsartikel beinhalteten wertende Deutungen wie „organisierter Hunger“ und „Völkermord durch Hunger“, die zuerst in der Politikwissenschaft und der Geschichtsforschung der ukrainischen Diaspora Verbreitung fanden. Ukrainische Historiker verwiesen auf den genozidalen Charakter des künstlichen Hungers und druckten ihre Artikel in deutscher Sprache. Jedoch fanden damals keine Diskussionen zwischen ihnen und den deutschen Kollegen statt, und das Thema des Holodomor wurde für die deutschen Wissenschaftler nicht zu einer Priorität. Die ersten geschichtswissenschaftlichen Studien erschienen Mitte der 1980er Jahre. Ihren Anfang machte der Artikel von Stephan Merl über die Kollektivierung der Landwirtschaft in der UdSSR, die „Lebensmittelkrise“ und die Hungersnot. Merl untersuchte den Agrarsektor in den Jahren der Neuen Ökonomischen Politik und verfasste eine Monographie, befand sich aber unter dem Einfluss der Vorstellungen über „NĖP-Renaissance“ und blieb „Gefangener“ einzelner theoretischer Paradigmen sowjetischer Geschichtsschreibung. Er bestritt den genozidalen Charakter des Holodomor, musste jedoch eine statistisch-historische Tatsache anerkennen: „Mehr als die Hälfte der Opfer der Hungersnot waren tatsächlich Ukrainer“. Merl war davon überzeugt, dass Josef Stalin die künstliche Hungersnot nicht zur Beseitigung des ukrainischen Nationalismus einsetzte. Sein Artikel in einer russischen wissenschaftlichen Zeitschrift ist ein Beleg für die interpretatorische Leugnung des Genozids und widerspricht damit den Schlussfolgerungen und Bewertungen bekannter amerikanischer Wissenschaftler wie Robert Conquest und James E. Mace.
In den 1990er Jahren kam der Holodomor bei deutschen Historikern im Zusammenhang mit den stalinistischen Massenrepressionen sowie der Theorie und Praxis des Stalinismus zur Sprache. Bei den Kritikern des „Schwarzbuch des Kommunismus“ stand der Holodomor nicht im Vordergrund. Obwohl sie die Mittäterschaft der stalinistischen Führung an der Hungersnot in der Ukraine nicht verneinten, bewerteten sie diesen jedoch im Kontext einer „gesamtsowjetischen Hungersnot“ und ignorierten dabei nationale Komponenten.
Mit der Anpassung an die Integrationsprozesse in Europa und in der Welt veränderte sich die „Ostforschung“ in den 2000er Jahren in organisatorischer und weltanschaulicher Hinsicht. Ukrainische Historiker und Politikwissenschaftler veröffentlichten ihre Artikel in der Zeitschrift Osteuropa. Die dramatische Vergangenheit der Ukraine wird nach und nach zum Forschungsgegenstand deutscher Historiker. In den Jahren 2000 bis 2020 publizierte die Zeitschrift Osteuropa über 150 wissenschaftlich-analytische Abhandlungen zur historischen Vergangenheit, zum gesellschaftlich-politischen und zum geistigen und staatenbildenden Leben der heutigen Ukraine. Den Ereignissen auf dem Majdan, dem russisch-ukrainischen Krieg im Donbas und dem Annexionsversuch auf der Krim sind 108 von 150 Artikel in diesem intellektuellen Flagschiff moderner „Ostforschung“ gewidmet, den Reformen und der Dekommunisierung 29, den kirchlich-religiösen Beziehungen neun Artikel. Jedoch bleibt die Geschichte Ost- und Mitteleuropas, wie Jürgen Kocka zurecht hervorhebt, eine eigentümliche Herausforderung für die vergleichende Geschichtswissenschaft. Zwischen der objektiven Untersuchung der Vergangenheit und der praktischen Anwendung historischer Erkenntnisse treten Schwierigkeiten unterschiedlicher Art auf, insbesondere im Bereich der Herausbildung eines kollektiven Gedächtnisses.
Zu Beginn der 2000er Jahre erfolgte in der deutschen Forschung zum „ukrainischen Holodomor“ der intellektuelle Durchbruch. Man ging nämlich nun dazu über, dieses Thema im Kontext des Holocaust und der nationalen Frage in der Ukraine zu betrachten. Die „Ostforschung“ der Nachkriegszeit behandelte die Holocaust-Problematik sehr behutsam, während der Holodomor kaum Erwähnung fand. Diese rätselhafte intellektuelle Dichotomie lässt sich auch jetzt beobachten, aber anstelle eines wissenschaftlichen Ansatzes kommt es momentan zu einer Art Bieterverfahren im „Abwägen“ demographischer Verluste und zu widersprüchlichen politisch-rechtlichen Interpretationen. Manchmal wird das Holodomor-Thema vereinzelt „eingestreut“, wenn das Stalin-Regime thematisiert wird. Die Diskussion um die historische Legitimität des Vergleiches stalinistischer (bolschewistischer) und deutscher Konzentrationslager, ihrer Rolle und ihrer Verortung im System zweier totalitärer Regime dauern an. Die Lager in der UdSSR unterschieden sich von denen der Nationalsozialisten, insbesondere von den Vernichtungslagern. Der Historiker Jörg Baberowski zeigte in seinem Buch „Verbrannte Erde“ das Entstehen der persönlichen Diktatur Stalins in den 1930er Jahren auf. Bei seinem Buch handelt es sich um eine erweiterte und erheblich ergänzte Version des vorhergegangenen Buches „Der rote Terror“. Baberowski stellt sich in der Darlegung sowjetischer Geschichte den sogenannten Revisionisten und Anhängern einer Totalitarismus-Theorie entgegen. Nach seiner Auffassung gewannen diese konzeptuellen Ansätze in den 1970er und 1980er Jahren an Aktualität, mussten aber als Kritik am politischen System der UdSSR herhalten. Baberowski verwendet eindeutige Einschätzungen des Stalinismus und Stalins selbst: „Despot“, „Sowjetimperium“, „totalitäre kommunistische Diktatur“, „Regisseur des Terrors“, „paranoide Welt der Sowjet-Diktatur“, „Stalins verbrecherische Energie“, „kommunistische Diktatur“. Er verweist auf die Unterschiede zwischen der kommunistischen und der nationalsozialistischen Diktatur, zwischen dem Bolschewismus und dem Nationalsozialismus. Zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft existierten gesellschaftliche Bereiche, die der nationalsozialistischen Partei und dem Hitler-Regime nicht untergeordnet waren. Nach der Überzeugung Baberowskis erwiese sich der Stalinismus als eine Form kommunistischer Herrschaft. Die Führungsspitze der Partei in der Person Stalins kontrollierte die Gesellschaft voll und ganz, die örtlichen Funktionäre innerhalb der Partei ordneten sich dem Führer unter. Feinde waren soziale und ethnische Gruppen, die den bestimmten Klassen und Nationalitäten angehörten, und ihre Vernichtung wurde zur erklärten Aufgabe der Bolschewiken. Stalinismus und Terror sind Synonyme, denn hunderttausende Bauern wurden nach Sibirien verschleppt (laut Baberowski insgesamt ungefähr zwei Millionen Personen), Millionen Menschen kamen während der Hungersnot von 1933 um.
Baberowski erkennt die Tatsache an, dass der Sowjetstaat ein Krieg gegen die Bauern führte, bringt diesen aber lediglich mit der Kollektivierung und der Deportation der Kulaken in Verbindung. Seine Kollegen Stefan Plaggenborg und Gerd Koenen polemisieren gegen ihn und erinnern an die große Hungersnot in der UdSSR von 1933, der größten Hungersnot in der Geschichte des Landes (im Original auch deutsch – Red.). Sie sprechen von einer „gesamtsowjetischen Hungersnot“, ohne nationale Spezifik. Dies räumt auch Sheila Fitzpatrick ein, Verfasserin eines Artikels, welcher im Zusammenhang mit der Diskussion um den Ursprung des Stalinismus erschien. Der französische Historiker Nicolas Werth stellt bei der Erforschung des GULAG-Systems ihr soziales Kontingent, die Zwangsarbeiter, heraus. Die westlichen Forscher stützen sich auf die Moskauer Archivbestände und drucken ihre Bücher im Verlag „ROSSPĖN“, da sie sich in ihren eigenen Studien an den Grundsatz der „Russlandzentriertheit“ halten. Der russische Historiker Andrej Meduševskij, dessen Artikel in der Zeitschrift Osteuropa gedruckt wurde, macht auf diesen Umstand aufmerksam.
Die deutschen Wissenschaftler treiben die Erforschung des tragischen Schicksals der sog. Ostarbeiter und des dramatischen Schicksals ihrer Kinder während des Zweiten Weltkriegs produktiv voran und arbeiten eng mit ukrainischen Historikern zusammen. In Forschungsarbeiten deutscher Wissenschaftler werden die schauerlichen Wandinschriften der Gefangenen der Kölner Gestapo, unter denen sich auch Ukrainer befanden, thematisiert. Dennoch tangiert die intellektuelle Internationale, d.h. die Zusammenarbeit deutscher und ukrainischer Historiker, die Problematik des Holodomor nur noch am Rande. Die Redaktion der Zeitschrift Osteuropa druckt Artikel zur Rolle der ukrainischen Staatssymbolik bei der Bildung der ukrainischen Nation, zur Entstehung einer „ukrainischen Erinnerungskultur“, zur Tätigkeit der Organisation der ukrainischen Nationalisten (OUN) und der Aufstandsarmee der Ukraine (UPA) sowie ihrer situationsabhängigen Beziehungen mit den deutschen Besatzern in der Ukraine. Indem es sich zum Grundsatz des Meinungspluralismus und der vergleichenden Analyse bekennt, gewährt das Redaktionskollegium der Zeitschrift Osteuropa ukrainischen, polnischen und russischen Historikern eine eigene Tribüne. Von den Besonderheiten der Erinnerungspolitik in der Ukraine ist insbesondere im Artikel von Andrij Portnov die Rede. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Holodomor und mit dem Holocaust setzten in der Ukraine nach Auffassung von Anatolij Podol’skyj fast gleichzeitig, in den 1990er Jahren, an. Podol’skyj verwendete die Begriffe „unser Holodomor“ und „unser Holocaust“, d.h. im kollektiven Gedächtnis der Ukraine koexistieren beide Genozide. Der deutsche Begriff ukrainischer Holodomor (im Original auch deutsch – Red.), der in seinem Artikel, aber auch bei den meisten deutschen Autoren vorkommt, ist sowohl historisch als auch sprachlich falsch. Das Wort „ukrainisch“ ist in einer solchen Konstruktion kein Adjektiv und verweist nicht auf den Tatort, setzt jedoch dagegen das Objekt und das Subjekt der Handlung miteinander gleich. Die Ukrainer waren aber nicht die Täter des Holodomor, sondern dessen Opfer. Aus diesem Grunde ist es richtig, von einem Holodomor in der Ukraine und vom Holodomor als Genozid am ukrainischen Volke zu sprechen.
Die Forscher, die danach streben, die Anzahl der Holodomor-Opfer objektiv zu bestimmen, kann man nicht als „sogenannte Forscher“ bezeichnen. Wenn Arsenij Roginskij, Gründer der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“, sechs Millionen Bauern als Opfer des künstlichen Hungers der Jahre 1932 bis 1933 (im Original auch deutsch – Red.) bezeichnet, so wird er dadurch nicht zum „sogenannten Forscher“. In der Historiographie des Holodomor nennen zahlreiche Wissenschaftler unterschiedliche Zahlen (D. Solovej, R. Conquest, J. Mace), daher ließ sich Anatolij Podol’skyj von seinen Emotionen leiten, als er von „‚sogenannten‘ Forschern“ schrieb. Der deutsche Historiker Stephan Merl gab 2016 ebenfalls sechs Millionen Opfer an, erkannte aber gleichzeitig den Holodomor nicht als Völkermord an den Ukrainern an.
Der historiographische Bereich „Ostforschung“ betrachtete bereits seit seiner Gründung in den 1920er Jahren die UdSSR als ein geopolitisches Subjekt. Die Geschichte der Ukraine wurde von den deutschen Forschern, mit Ausnahme der Kyiver Rus’ und des Zeitalters der Kosaken, als Bestandteil einer „gesamtsowjetischen“ oder russischen Geschichte wahrgenommen. Das Konzept einer „gesamtsowjetischen Hungersnot“ spielt für die deutschen Historiker eine Schlüsselrolle. Dieses Konzept kam während der Sitzung des Petitionsausschusses des deutschen Bundestages deutlich zum Vorschein, welcher den Antrag (die Petition) der ukrainischen intellektuellen Gemeinschaft auf Anerkennung des Holodomor als Völkermord am ukrainischen Volk diskutierte. Aus diesem Anlass äußerte Martin Schulze Wessel, Historiker an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, am 23. März 2020 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seine eigene integrale und symbolische Auffassung, welche allerdings konzeptionelle und faktographische Besonderheiten der gesamten deutschsprachigen Historiographie des Holodomor gut beschreibt. Schulze Wessel sieht in Stalin den Organisator der Hungersnot in der Ukraine und hält den Holodomor für einen Massenmord an der gesamten ukrainischen Nation. Gleichzeitig äußerte der Historiker seine Bedenken bezüglich der Qualifizierung des Holodomor als Genozid.
Die historische Sitzung des Petitionsausschusses des deutschen Bundestages, dem 28 Abgeordneten unterschiedlicher Fraktionen angehörten, fand am 21. Oktober 2019 statt. Michael Roth, der damalige Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, beantragte die Ablehnung der Petition, da es die organisierte Hungersnot auch in anderen Sowjetrepubliken gegeben hätte und der Genozid-Begriff vor 1951 nicht definiert wäre (tatsächlich vor 1948). Arnold Vaatz (CDU) bezeichnete eine solche Position des Auswärtigen Amtes als eine formale Ablehnung, da die deutschen Politiker sowie die deutsche Wirtschaft den Konflikten mit Russland scheuen. Alleine die Tatsache, dass der Bundestag das Problem des Holodomor als Genozid debattierte, spielt eine wichtige Rolle, aber es fand im Vorfeld keine entsprechende fachliche Erläuterung statt, insbesondere im Rahmen der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission (DUHK). Die neue deutsche Koalitionsregierung kündigte eine neue Debatte über Ukrainer an, die der nationalsozialistischen Herrschaft während des Zweiten Weltkrieges zum Opfer fielen.
Bei der intellektuellen Erschließung des osteuropäischen Raums und seiner politischen Wahrnehmung handelt es sich um einen überaus heiklen Themenbereich. Das konservative und vernünftige Europa reagiert kraftlos auf globale Herausforderungen. Die radioaktiven Wellen des zerstörten Reaktors im Atomkraftwerk von Čornobyl’ im April 1986 wühlten es ebenso auf wie die unsichtbare und doch so reale Gefahr der Covid19-Pandemie in den Jahren 2019 bis 2021, auf die die Zeitschrift Osteuropa mit einer Sonderausgabe reagierte (3-4/2020). Der Versuch die Krim zu annektieren, sowie die russische Okkupation eines Teils des Donbas lösten bei europäischen Politikern eine verhältnismäßige „Besorgnis“ aus. In einschlägigen Artikeln der Zeitschrift Osteuropa wurden eindeutige Bewertungen dieser Ereignisse festgehalten: „politische Repressionen gegen die Krimtataren“, „russische Okkupation“, „hybride Kriegsführung“, „militärische Expansion“, „russische Intervention“, „imperiale Hegemonie“, „Herausforderung für den Westen“. Die Ereignisse in Belarus in der zweiten Jahreshälfte 2020 regten zu der Herausgabe eines Themenheftes der Zeitschrift Osteuropa (10-11/2020) an mit dem klangvollen Titel „Macht statt Gewalt, Belarus: Schritte zur Freiheit“. Folglich besteht Anlass, von einem von der Redaktion verkündeten Grundsatz einer situationsbedingten Unvorhersehbarkeit zu sprechen.
Die Geschichte des Holodomor sowie die darauf bezogene Geschichtspolitik wurde nicht zu einer intellektuellen Herausforderung für die westliche Gesellschaft, da die Tragödie der Ukrainer den meisten Europäern sowohl mental als auch in zeitlicher Hinsicht fremd ist. Die europäische Politik reagierte 1933 nicht so, wie sie hätte sollen. Frankreich war Stalin gefällig und überließ die „verhungernde Ukraine“ sich selbst; die Lektionen, die man nicht gelernt hat, müssen sich zwangsläufig wiederholen. In den 2000er Jahren warnten Politikexperten im Westen davor, Russland könne die Staatsgebiete der Ukraine sowie von Belarus als „Konfliktfeld“ benutzen, um unsere europäische Integration zu bremsen.
In der Geschichte der Osteuropastudien existierten Politik, Ideologie und Geschichtsschreibung nebeneinander. Ein ideologisch abhängiger Historiker ist vom unvoreingenommenen Forscher der verbrecherischen Ideologien und Praktiken des 20. Jahrhunderts zu unterscheiden. 2014 dachten Guido Hausmann und Tanja Penter über die ideologische und historiographische Deutung der modernen Geschichte der Ukraine nach. Die Tatsache, dass es in der Zeitschrift Osteuropa in den Jahren 2003, 2008 und 2018 keine einzige Publikation zum „ukrainischen Holodomor“ gab, war offensichtlich zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Im Jahre 2020 nehmen diese beiden Forscher die Forderung der Ukraine nach einer internationalen Anerkennung des Holodomor als Genozid als einen Versuch wahr, diese in die europäische und globale Erinnerungskultur zu integrieren. Das kollektive Gedächtnis ist veränderlich, genauso sind die erinnerungspolitischen Attribute den Änderungen ausgesetzt. Die Anerkennung des Holodomor als Genozid ist für die Ukraine zu allererst eine Wiederherstellung historischer Gerechtigkeit, die Würdigung der Erinnerung an dessen Opfer sowie eine öffentliche und normative Verurteilung des Verbrechens gegen die Menschlichkeit.
Die intellektuelle Zusammenarbeit deutscher und ukrainischer Historiker in der Erforschung des Holodomor nimmt langsam Fahrt auf, auch wenn theoretische Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich bestimmter Schätzungen weiterbestehen. Die Sonderausgabe der Zeitschrift Osteuropa (12/2004) über den Holodomor in der Ukraine und in der UdSSR stellt ein prägnantes Zeugnis dazu dar. Ausdrucksvoll ist der Titel „Vernichtung durch Hunger“. Die Herausgeberin der Zeitschrift ist die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, so dass man von einem wichtigen historiographischen Ereignis und einer gewissen Tradition sprechen kann. Diese Ausgabe enthielt Artikel ukrainischer und deutscher Historiker. Im Vorwort wird die Anzahl der Opfer des Holodomor in der Ukraine auf sechs bis sieben Millionen Menschen geschätzt. Als methodologischer Ansatz der Sonderausgabe wird eine Darstellung des Holodomor mittels vergleichender Analyse des Genozids und anderer Formen von Massenvernichtungen in den Jahren des stalinistischen Terrors hervorgehoben.
Bei der Erforschung der „Phänomenologie von Massenvernichtungen“ im 20. Jahrhundert sowie ihrer historischen Formen und Methoden stützte sich der deutsche Politikwissenschaftler Egbert Jahn auf die Vorstellung von einem „geplanten und organisierten Aushungern (oder Holodomor, d.h. Vernichtung durch Hunger, im Original auch deutsch – Red.)“. Jahn benannte 15 Arten und Formen von Massenvernichtung, darunter auch den Massenmord an einem ganzen Volk, d.h. Völkermord bzw. Genozid. Eine kritische Betrachtung von historiographischen Quellen regte ihn zu einer vertieften Betrachtung der Genozid-Konvention von 1948, aber auch zu ihrer modernen Deutung durch Geschichts-, Rechts- und Politikwissenschaftler an. In der Konvention ist festgelegt, dass es sich bei einem Genozid um Töten der Mitglieder einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe sowie um Zufügen von Körperverletzungen und Herbeiführen geistigen Verfalls zum Nachteil der „Mitglieder einer solchen Gruppe“ handelt. Das heißt, nach der Überzeugung Egbert Jahns, kann als Genozid auch der Mord an ein paar Ukrainern gelten, jedoch trifft dies scheinbar bei Millionen ukrainischer Bauern nicht zu – doch nicht etwa weil sie Repräsentanten einer soziale Klasse sind? Jedoch widersprechen derartige Deutungen nach Auffassung Jahns den allgemeinen Menschen- und Bürgerrechten; diese wiederum werden auf Grundlage anderer Normen des Völkerrechts geschützt. Indem er Überlegungen zu den politikwissenschaftlichen und historiographischen Begriffen „Klassozid“, „Soziozid“ und „Ethnozid“ anstellt, akzentuiert der Wissenschaftler ihre Mehrdeutigkeit. Im Völkerrecht, so vermutet Egbert Jahn, existiert ein Unterschied zwischen den Kategorien „Genozid“ und „Ethnozid“. Dieser besteht darin, dass es sich bei einem Ethnozid um die gewaltsame Vernichtung eines Volkes mittels erzwungener Assimilation handelt. Jahn bleibt gegenüber der integralen Kategorie wie „Demozid“, welche die Begriffe „Genozid“, „Ethnozid“ und „Politozid“ umfasst, skeptisch. Ein solcher Ansatz, welcher die gesamte Bevölkerung (eine nationale, ethnische, rassische und jede beliebige andere Gruppe) als Opfer einer Massentötung definiert, ist eine vereinfachte und allzu vereinheitlichte Herangehensweise. Die Hungersnot in der Ukraine war nach der Auffassung Jahns die Folge eines systematischen Nahrungsentzugs. Dennoch vertritt er die Meinung, dass die Zahl der Opfer kein inhärentes Merkmal eines Genozids bzw. Völkermordes ist.
Seine Kollegen Rudolf Mark und Gerhard Simon äußerten gewisse Vorbehalte bezüglich der Interpretation des Holodomor als Genozid. Nach ihrer Überzeugung handelte es sich bei diesem nicht um einen Krieg zwischen ethnischen Russen und ethnischen Ukrainern, sondern diese waren Opfer eines Krieges des Stalin-Regimes gegen die beiden Völker. Die Gegenüberstellung der Begriffe „Bauern“ oder „Ukrainer“ trägt, unter Berücksichtigung der absoluten Mehrheit der ethnischen Ukrainer (ca. 90 % der ukrainischen Landbevölkerung), Merkmale eines künstlichen Entwurfs widersprüchlicher intellektueller Konstruktionen, welcher die Aufmerksamkeit davon ablenkt, dass eine genozidale Komponente vorhanden ist. Das Verschmelzen der kausal-konsekutiven Verbindung zwischen „Hunger und ukrainischem Nationalismus“, auf die sich Gerhard Simon einließ, ist in der Tat widersprüchlich.
In den Arbeiten westlicher Wissenschaftler finden die Besonderheiten des Holodomor, der seitens der Russländischen Föderation nicht als historische Tatsache anerkannt wird, auf dem Staatsgebiet der Russländischen Sowjetrepublik kaum Beachtung. Die Ereignisse in den ländlichen Regionen der Zentralen Schwarzerde-Region, in der Kuban’-Region, im Nordkaukasus, an der Wolga und in Nordkasachstan lassen sich nur bedingt im Kontext einer gesamtsowjetischen Hungersnot betrachten, weil die modernen russischen Geschichts- sowie Politikwissenschaften „russisch“ mit „(gesamt)sowjetisch“ gleichsetzen. Der Historiker Nikolaus Katzer hat hinsichtlich der Hungersnot auf dem Staatsgebiet von Sowjetrussland als einer der ersten deutschen Wissenschaftler die Ansätze regionalgeschichtlicher Forschungen bzw. Regionalstudien (im Original auch deutsch – Red.) angewandt. Ein hoher Anteil der Russen in jeder der oben genannten Regionen hat nach Katzers Auffassung zur Folge, dass keine bestimmte nationale Gruppe unter den Opfern der Hungersnot überpräsentiert war. Von Katzer stammt auch der Begriff „Hungerepidemie“ (im Original auch deutsch – Red.), die nicht als eine bedrohliche sanitär-epidemiologische Situation (Typhus, Malaria u.a.) verstanden wird, sondern als ein Hinweis auf die Intensität, in welcher sich der organisierte Hunger verbreitete. Katzer zitiert die Arbeiten von Historikern und Demographen und nennt hinsichtlich der Hungersnot unterschiedliche Opferzahlen, von 3,8 bis zu zehn Millionen. Die Kollektivierung, die Entkulakisierung sowie die Hungersnot führten nicht nur zu demographischen Verlusten, sondern zerstörten nach Katzers Überzeugung die geistigen Grundlagen bäuerlicher Kultur. Er lehnte die genozidale Komponente des Holodomor nicht ausdrücklich ab, vermied aber dessen politische und rechtliche Bewertung.
Der Historiker Andreas Kappeler unterstreicht den Einfluss des „historischen Erbes der Ukraine“ auf ihre Gegenwart und Zukunft. Er ist davon überzeugt, dass der „ukrainische Hunger“ der Jahre 1932/33 die Folge einer Herrschaft bolschewistischer Ideologie, einer Politik der Entkulakisierung, der Zwangskollektivierung, der Getreidebeschaffungsmaßnahmen und eines offenen Terrors seitens der sowjetischen Staatsorgane ist. Warum waren drei Viertel der Holodomor-Opfer nicht Russen, sondern in erster Linie Ukrainer und Kasachen? Die von Kappeler aufgeworfene Frage beinhaltet keine ideologische Komponente, sondern stellt eher eine geschichtswissenschaftliche Tatsache dar. Als deutsche Entsprechung des Begriffs „Holodomor“ hat Kappeler die Bezeichnung „Hungerkatastrophe“ (im Original deutsch – Red.) vorgeschlagen. Es soll darauf hingewiesen werden, dass dieser Terminus von den deutschen Diplomaten 1933 stets verwendet wurde. Kappeler äußerte dahingehend Zweifel, dass Stalin eine „Strafaktion gegen die Ukrainer“ (im Original auch deutsch – Red.) geplant haben soll; aus diesem Grunde sei es problematisch, über einen „Genozid am ukrainischen Volk“ zu sprechen und „ihn in eine Reihe mit dem Genozid an den Juden und an den Armeniern zu stellen“. Zweifellos gilt es hier unter Berücksichtigung von Zeit, Umständen, Methoden und Formen des verübten Verbrechens zu differenzieren, und das Verbrechen nicht mittels historischer Analogien und zweifelhafter Interpretationen zu leugnen.
Das Buch von Kappeler trägt den Titel „Ungleiche Brüder“. Das deutsche Adjektiv ,ungleich‘ entspricht mehreren ukrainischen Adjektiven: nerivnyj („uneben“), neodnakovyj („ungleich“, „verschieden“), riznyj („verschieden“, „unterschiedlich“), neadekvatnyj („inadäquat“, „unangemessen“). Der Vergleich des Genozids an den Juden, Armeniern oder Ukrainern mittels der Suche nach gleichartigen Formen, Methoden und Intentionen physischer Vernichtung ist kein angemessenes, also ein inadäquates, historiographisches Verfahren. In den ersten beiden Fällen fand der Genozid auf Grundlage vorsätzlicher physischer Vernichtung mitten im Krieg statt, während die Ukrainer zu Friedenszeiten mittels organisierten Hungerns hätten ausgerottet werden sollen. Der Vergleich nicht äquivalenter Erscheinungen muss durch die Beschreibung des Besonderen und des Einzigartigen, des Gemeinsamen und Verschiedenen gezogen werden und darf nicht auf ein einheitliches Kriterium hinauslaufen. Der Unterschied zwischen Holodomor und Holocaust lässt sich nicht durch die Zahl der Opfer messen, sondern durch die Formen und Methoden des Massenmordes sowie durch das Vorhandensein nationaler Merkmale. Wenn man sich an die chronologische Abfolge hält, so wurden die Ukrainer wie auch die Juden zu Opfern der Genozide des 20. Jahrhunderts.
Bei der deutschsprachigen Historiographie zum Holodomor handelt es sich mit Blick auf die Forschungsarbeit von Guido Hausmann um einen recht jungen geschichtswissenschaftlichen Diskurs, der jedoch zu relativ belastbaren Schlussfolgerungen gelangte. Es ist allgemein anerkannt, dass die Hungersnot durch das stalinistische Regime organisiert wurde. Der Terminus „Holodomor“ ruft weder in sprachlicher noch in geschichtlicher Hinsicht Widersprüche hervor, insbesondere was die Ursachen dafür angeht: Kollektivierung, Politik der Entkulakisierung, Getreidebeschaffungsmaßnahmen. Hausmann stellt zu Recht fest, dass sich die deutschen Historiker in den vergangenen 30 Jahren nicht für das Holodomor-Thema in der Ukraine interessierten, mit Ausnahme von Politikwissenschaftlern und einigen Fachleuten, die die Besonderheiten der Geschichtspolitik untersuchten. Die Forschungen zu den Ursachen, Formen und Folgen des Holodomor sind, so Hausmanns These, aktueller denn „seine Deutung als Genozid“ (im Original auch deutsch – Red.). Je intensiver sich die deutschen Kollegen mit den Archivdokumenten auseinandersetzen, desto gründlicher werden ihre Schlussfolgerungen. So zum Beispiel befasste sich Cornelia Witz mit der Hilfe für die „Sowjetdeutschen“ durch den Verein „Brüder in Not“. Sie geht davon aus, dass der Holodomor Merkmale eines Genozids aufweist.
Jedoch bleibt im deutschsprachigen intellektuellen Milieu die historische und rechtliche Einordnung des Holodomor als Genozid auch weiterhin Gegenstand von Diskussionen. Manchmal schalten sich in diese Diskussionen auch ukrainische Historiker ein, die mit Nachdruck über mögliche Pläne von Stalin sprechen, die Ukrainer vorsätzlich auszurotten.
Als wissenschaftlich-institutionelles und politisches Projekt bewahrte die „Ostforschung“ die grundlegenden Bereiche der Osteuropastudien (Politik, Ökonomie, Bildung, Kultur), vervollkommnete das theoretische Fundament (interdisziplinäre Herangehensweise, vergleichende Analyse) und überdachte in der Darlegung der Sozialgeschichte der „östlichen Länder“ die bestehenden historiographischen Traditionen und konzeptuellen Diskurse. Längere Zeit stellte der Holodomor für die Wissenschaftler in Deutschland keinen Forschungsschwerpunkt dar. Man erinnerte sich seiner im Kontext einer „gesamtsowjetischen Hungersnot“, und die für die „Ostforschung“ klassische vergleichende Analyse lässt sich nur schwer in eine Gegenüberstellung einzelner Bestandteile und in die Trennung von Besonderem und Einzelnem unter allgemeinen Aspekten umwandeln. Die Quantität von Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften nimmt zu, aber es fehlen Monographien. Es ist de facto ein gegenseitiges Verständnis hinsichtlich der wesentlichen Ursachen erreicht worden. Äußerst widersprüchlich sind die Interpretationen demographischer, sozioanthropologischer und nationaler Folgen sowie die politisch-rechtlichen Bewertungen des Holodomor in der Ukraine.
Im Bereich der Geschichtspolitik und der institutionell-erinnerungspolitischen Anerkennung des Holodomor als Genozid brachten deutsche Wissenschaftler elektronische Fotographien von Denkmälern und Mahnmalen auf Gräbern von Holodomor-Opfern heraus. Ihre erinnerungsgeschichtliche Verwendung sowie die politisch-rechtlichen Bewertungen sind Angelegenheit der gesetzgebenden Staatsorgane. Ausgehend von dem aktuellen politischen, historiographischen und erinnerungspolitischen Umfeld, gewinnt ein gemeinsames ukrainisch-deutsches Forschungsprojekt zur Untersuchung des Holodomor sowie das Verfassen einer gemeinsamen akademischen Untersuchung immer mehr an Bedeutung. In den deutschen Archiven werden einzigartige Überlieferungen aus den 1930er Jahren aufbewahrt, welche für die Forschungscommunity von großem Interesse sein können.
Übersetzung aus dem Ukrainischen von André Böhm