Demokratie an der Grenze
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt die internationale Osteuropawissenschaft vor neue konzeptionelle und forschungspraktische Herausforderungen. Zum einen erfordert die russische Aggression weiterhin verlässliche historische, sozial- und kulturwissenschaftliche Expertise über Russland und Belarus. Zum anderen rückt die Verletzlichkeit von Staaten und Demokratien an der nordöstlichen Westgrenze eines der großen europäischen Imperien in den Blick, die bisher als Peripherie Russlands und der Sowjetunion durch die Osteuropaforschung eher vernachlässigt wurden.
Die Tagung „Demokratie an der Grenz. Scheitern und Erfolg offener Gesellschaften in Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Ukraine, Belarus und Russland, 1825 - 2025" führt beide Perspektiven, den Erhalt der Russland-Kompetenz und den postimperialen Blick auf nichtrussische Gesellschaften, Völker und Staaten zusammen und leistet damit einen Beitrag zur Rekonzeptionalisierung der Osteuropawissenschaften. Sie nimmt den 200. Jahrestag des gescheiterten russischen Dekabristenaufstandes (1825) zum Anlass zu fragen, warum offene Zivilgesellschaften in Russland und Belarus immer wieder scheiterten, während sie in an der nordwestlichen Peripherie des ehemaligen Russländischen Imperiums (bis 1917) bzw. der Sowjetunion (bis 1991) und im postsowjetischen Raum, also den heutigen Staaten Nordost- und Ostmitteleuropas, tragfähige demokratische Traditionen ausbilden konnten.
Die Tagung untersucht vergleichend für fünf Regionen (bzw. acht Länder: Finnland; Estland und Lettland; Litauen und Polen; die Ukraine; sowie Russland und Belarus) nicht nur die Geschichte der politischen und sozialen Systeme selbst, sondern auch deren tiefer angelegte Voraussetzungen. Welche Faktoren ließen die Geschichten der liberalen Ideen, der Demokratie und im weitesten Sinne der offenen (Zivil-)Gesellschaften auf den (ehemaligen) Gebieten des Russländischen Imperiums bis heute einen so unterschiedlichen Verlauf nehmen? Was sind die tieferen Ursachen für ihr Gelingen oder Scheitern bis heute?
Der analytische Zugriff erfolgt über vier Längsschnitte die einem Land oder einer Region zugeordnet sind, aber auch übergreifend angelegt sein können:
- die religiösen, philosophischen und ideologischen Grundlagen politischer Entwürfe (politische Anthropologie: Welt- und Menschenbilder, Werte, Ideologie);
- die Verfasstheit kollektiver Erinnerungen (Geschichtsnarrative: kollektive Identität und gesellschaftliche Homogenität versus individuelle Lebensentwürfe);
- die ökonomischen Bedingungen für Partizipation (Ökonomie: ökonomische Macht und Verteilung, technische Innovation, wirtschaftliche Dynamiken);
- und die Räume für Zivilgesellschaft sowie die „Spielräume“ für die Einübung von Praktiken der Partizipation Einzelner (Sozialgeschichte: Bildung, Gesellschaften, Vereine, Parteien).
Mittwoch, 15. Januar 2025
13.00 – 14.00 Registrierung
14.00 – 14.15 Begrüßung
Kirsten Bönker (Nordost-Institut Lüneburg)
Jan Kusber (Universität Mainz)
14.15 – 14.30 Einführung
Detlef Henning (Nordost-Institut Lüneburg)
I. Religiöse, philosophische und ideologische Grundlagen politischer Entwürfe
14.30 – 15.45 Moderation: Victor Dönninghaus
Die Russisch-Orthodoxe Kirche und ihr Menschen- und Gesellschaftsbild im 19. Jahrhundert
Sebastian Rimestad (Universität Leipzig)
Die Wiedergeburt des Imperiums aus dem Geist des Exils: Strategien und Visionen Ivan Il'ins (1883–1954)
Rainer Goldt (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)
16.40 – 17.30 Moderation: Sandra Dahlke
Demokratisches Denken in Finnland im Rahmen der Tradition der schwedischen Ständeordnung
Ralph Tuchtenhagen (Humboldt-Universität zu Berlin)
Die Anfänge des politischen Denkens unter Letten im Russländischen Zarenreich (bis 1918)
Ivars Ījabs (Universität Lettlands, Riga)
18.30 Öffentlicher Vortrag im Foyer des Ostpreußisches Landesmuseums
Eine kurze Geschichte des Liberalismus in Russland und seines Scheiterns (19. und 20. Jahrhundert)
Dietmar Neutatz (Universität Freiburg)
Donnerstag, 16. Januar 2025
II. Narrative / Narratives
09.00 – 10.40 Moderation: David Feest
Literatur als Erweckung. Die Anfänge der literarischen Öffentlichkeit in Estland
Liina Lukas (Universität Tartu, Estland)
Potential, Spielräume und Grenzen ziviler Gesellschaft im Russländischen Reich vor dem Oktoberumsturz 1917
Lutz Häfner (Universität Bielefeld)
Intellectuals and Latvian Democracy
Ieva Zaķe (Millersville University, Pennsylvania PA, USA)
11.10 – 12.30 Moderation: Kirsten Bönker
Staats- und Nationsprojekte in den Romanen des russischen und ukrainischen Realismus
(Ulrich Schmid (Universität St. Gallen, Schweiz)
Demokratie und Nationalismus in Osteuropa
Jerzy Maćków (Universität Regensburg)
III. Politische und ökonomische Systeme
14.30 – 16.10 Moderation: Detlef Henning
Ausländische Staaten als Vorbilder für die Zukunft des Zarenreichs in den Augen der russischen Beamten (1856–1914)
Darius Staliūnas (Historisches Institut Litauens)
Fragilität im Krieg: Ukrainische Staatlichkeiten 1917–1921
Jan Kusber (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)
Stabilität und Fragilität der Demokratie in Lettland (in den Baltischen Staaten) in der Zwischenkriegszeit und nach 1990
Egils Levits (Staatspräsident a. D., Riga, Lettland)
16.40 – 18.00 Moderation: Anja Wilhelmi
Zwischen Demokratie und nationaler Diktatur: Die wirtschaftliche (Neu-) Ausrichtung Lettlands in der Zwischenkriegszeit
Katja Wezel (Universität Göttingen)
Rechte und linke Bedrohung – wie die finnische Demokratie die Krise überlebte (1929–1948)
Vesa Vares (Universität Turku, Finnland)
Freitag, 17. Januar 2025
IV. Spielräume der Zivilgesellschaft
09.00 – 11.00 Moderation: Katja Bernhardt
Kirche, Nation und Staat: Roman Dmowskis politische Publikationen während der II. Polnischen Republik
Benjamin Conrad (Humboldt-Universität zu Berlin)
Sanfte Sowjetisierung: Die „Gesellschaft für die Verbreitung politischen und wissenschaftlichen Wissens“ in der Estnischen SSR (1947 bis ca. 1956)
Karsten Brüggemann (Universität Tallinn, Estland)
Wahlen im Sozialismus als Wahlen der Nation? Die ersten Republikwahlen in der Sowjetrepublik Litauen
Dennis Wambolt (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)
11.30 – 13.00 Moderation: Dmytro Myeshkov
Fernsehkonsum und politische Kommunikation in der späten Sowjetunion
Kirsten Bönker (Nordost-Institut Lüneburg)
Belarus in the late 1980s and the first half of the 1990s: from the Acquisition of State Sovereignty to the Failure of Democracy
Victor Shadursky (University of Warwick, Großbritannien)
13.00 – 14.00 Abschlussdiskussion
Der öffentliche Vortrag „Eine kurze Geschichte des Liberalismus in Russland und seines Scheiterns (19. und 20. Jahrhundert)" von Prof. Dr. Dietmar Neutatz, Universität Freiburg findet im Foyer des Ostpreußischen Landesmuseums in Lüneburg um 18:30 Uhr statt.
Diese Veranstaltung ist eine Zusammenarbeit des Nordost-Institut, Lüneburg in Kooperation mit dem Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte des Historischen Seminars der Johannes Gutenberg-Universität, Mainz.
Kontakt: sekretariat@ikgn.de