„Ostforschung“ und Holodomor: Traditionen und Strategien der deutschsprachigen Historiographie
Einleitende Bemerkungen
Dmytro Myeshkov: Einleitende Bemerkungen zu Vasyl’ Maročko: „Ostforschung“ und Holodomor: Traditionen und Strategien der deutschsprachigen Historiographie
Am 30. November 2022 hat der Deutsche Bundestag das Hungersterben (Holodomor) von 1932–1933 in der Ukraine als Völkermord anerkannt. Kurz darauf veröffentlichte Vasyl’ Maročko einen Artikel in der „Ukrainischen Historischen Zeitschrift“, auf den das Nordost-Institut seine Leser aufmerksam macht. Die Erforschung der Geschichte Osteuropas und insbesondere der Geschichte der Ukraine in den deutschsprachigen Ländern war bereits Gegenstand der Untersuchungen der ukrainischen Historiker. Der Schwerpunkt des vorliegenden Artikels von Maročko liegt in erster Linie auf den Arbeiten deutschsprachiger Historiker zum Holodomor (1932–1933) in der Ukraine.
Prof. Dr. Maročko ist ein ukrainischer Historiker, der sich auf die Geschichte der Ukraine in den 1920er und 1930er Jahren spezialisiert. Er ist einer der führenden Holodomor-Forscher, ist am Institut für ukrainische Geschichte der Nationalen Akademie der Wissenschaften (Kyïv) tätig und leitet dort das Zentrum für Erforschung des Völkermordes am ukrainischen Volk. Anfang der 1990er Jahre gehörte Maročko zu den Gründern der Nationalen Assoziation der Holodomor-Forscher, war ihr aktives Mitglied und langjähriger Vorsitzender (1996, 2008–2015). Der von uns übersetzte Artikel ist daher als Ergebnis von Maročkos langjähriger Forschungsarbeit und seiner Kontakten mit anderen Holodomor-Forschern in der Ukraine und darüber hinaus zu sehen.
Während Maročko in seinem Artikel von 2003 die gesamte westeuropäische sowie die ukrainische Diaspora-Historiographie zum Holodomor berücksichtigte, konzentriert er sich in dem vorliegenden Beitrag auf die deutschsprachige Geschichtsforschung zu dem Thema. Dabei hat sich der Autor eine doppelte Aufgabe gestellt: Zum einen versucht er, die wichtigsten Etappen in der Beschäftigung mit dem Holodomor zu identifizieren und zu charakterisieren. Zum anderen versucht er, anhand dieser Befunde die wichtigsten Etappen in der Entwicklung deutschsprachiger Osteuropaforschung aufzuzeigen.
Als Ausgangspunkt für seine Betrachtungen wählte Maročko die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO), die 2013 ihr 100-jähriges Bestehen feierte, und ihre Zeitschrift „Osteuropa“. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass bis Mitte der 1980er Jahre der Holodomor von den Historikern im deutschsprachigen Raum weitgehend ignoriert wurde, was seiner Meinung nach auf die von der Ostforschung der Nachkriegszeit geerbte „Russlandzentriertheit“ der Osteuropastudien und die Idealisierung der Sowjetunion zurückzuführen ist. In den letzten 20 Jahren – so Maročkos Fazit – habe es jedoch eine positive Dynamik im Bereich der deutschsprachigen Holodomor-Forschung gegeben: In den letzten beiden Jahrzehnten seien mehr Arbeiten erschienen als in der gesamten Zeit des Bestehens der DGO, und die größten Fortschritte habe es bei der Erforschung der Ursachen und Folgen der Hungersnot von 1932–1933 gegeben.
Wie Maročkos Berechnungen zeigen, sind die meisten Publikationen zu ukrainischen Themen in „Osteuropa“ nicht historischen, sondern aktuellen Themen gewidmet – den Ereignissen auf dem Maidan in Kyïv, der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbas. Da es nur wenige Veröffentlichungen zur Geschichte des Holodomor gibt, befasst sich Maročko auch mit verwandten Themen. So analysiert er beispielsweise die Ergebnisse von Jörg Baberowskis Arbeit über das Wesen des stalinistischen Regimes und die Besprechung seines Buches „Verbrannte Erde“ auf den Seiten von „Osteuropa“. Maročko geht auch auf die Arbeit des Petitionsausschusses des Bundestages im Jahre 2019 zur Frage der Anerkennung des Holodomor als Völkermord und die Äußerungen einiger deutscher Historiker in der Tagespresse in diesem Zusammenhang ein. Schließlich lässt Maročko auch die Veröffentlichungen ukrainischer Historiker zum Holodomor in der Zeitschrift „Osteuropa“ nicht außer Acht und übt an ihnen zum Teil scharfe Kritik.
Die Verwendung des Begriffs „Ostforschung“ durch den Autor in Bezug auf die gesamte, mehr als ein Jahrhundert währende Periode der Osteuropastudien scheint nicht ausreichend gerechtfertigt und sogar problematisch. Zu Beginn des Artikels verwendet Maročko beide Begriffe (Ostforschung und Osteuropaforschung) als gleichwertig, später spricht er meist nur noch von „Ostforschung“, ohne den Begriff genau zu definieren. Vielen deutschen Kollegen folgend betrachtet Maročko das Jahr 1934 als ein Wendepunkt für die Osteuropaforschung in Deutschland. Otto Hoetzsch und seine Kollegen ignorierten zwar die Hungertragödie in der Ukraine, versuchten aber wissenschaftlich objektiv zu bleiben. Nach der Machtergreifung wurde die Ostforschung schnell zu einem Instrument der NS-Politik. Die neue – nach Maročkos Definition nationalsozialistische – Phase in der Entwicklung der Ostforschung (1935–1945) war durch Versuche gekennzeichnet, den Diktator Stalin zu beschwichtigen und die Ideologie des Lebensraums im Osten zu rechtfertigen. Die neue deutsche politische Führung hatte aus vielen Quellen Informationen über die Hungersnot, zog es aber vor, sie zugunsten des Mythos der Brüderlichkeit zwischen den beiden totalitären Regimen zu verschweigen. Maročko widerspricht deutschen Historikern, die behaupten, dass die Instrumentalisierung des Holodomor durch die Nazis einer der Hauptgründe für das mangelnde Interesse an diesem Thema in den ersten Nachkriegsjahrzehnten war. Seiner Meinung nach war der Holodomor in den besetzten ukrainischen Gebieten zwar ein Thema in der Presse, aber er wurde nicht zu einem wichtigen Instrument der NS-Propaganda.
Maročko weist zu Recht auf die persönlichen Kontinuitäten in der Entwicklung der Forschung zum östlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. während des Kalten Krieges hin. Er lässt aber die ihm zweifellos bekannten Diskussionen unter deutschen Historikern Mitte der 1970er Jahre außer Acht, die den Beginn der Emanzipation der Osteuropastudien vom Paradigma der Ostforschung markierten, sowie die Diskussionen Ende der 1990er Jahre, die den Prozess der Überwindung des „volksbodengeschichtlichen“ Blicks auf die Vergangenheit Osteuropas abschlossen. Die Berücksichtigung der Besonderheiten bestimmter Etappen in der Entwicklung der Ostforschung (in Bezug auf die Zeit nach 1989–1990 spricht Maročko von moderner Ostforschung) macht es nicht nur notwendig, existierende terminologische Besonderheiten zu berücksichtigen, sondern würde zweifellos auch dazu beitragen, deutschsprachige Studien zum Holodomor besser in die Forschungskontexte der Nachkriegszeit einzuordnen. Maročkos Hinweise auf die Notwendigkeit, polnische Studien zur Geschichte der Ostforschung zu berücksichtigen, sind in dieser Hinsicht durchaus wertvoll, auch wenn der Autor nicht genau spezifiziert, was seiner Meinung nach aus den polnischen Erfahrungen für die Behandlung ukrainischer Themen nützlich wäre. Die Publikationen polnischer Autoren, auf die Maročko verweist, vermitteln jedoch ein differenziertes Bild des allmählichen Übergangs vom Konfliktparadigma zu einer differenzierten, von politischen Mutmaßungen freien Betrachtung der Leistungen und Defizite der Ostforschung.
Maročkos Fazit zu den Perspektiven der Erforschung der Geschichte des Holodomor und insbesondere der ukrainisch-deutschen Zusammenarbeit auf diesem Gebiet fällt positiv aus. Gleichzeitig stellt er die größten Diskrepanzen zwischen ukrainischen und deutschen Historikern bei der Einschätzung der demographischen Folgen des Holodomor und seiner völkerrechtlichen Bewertung fest. Mit der Priorisierung dieser beiden Aspekte der Geschichte des Holodomor folgt Maročko der in der ukrainischen Geschichtsschreibung vorherrschenden Tradition, die allerdings in den letzten Jahren sowohl von ukrainischen als auch von deutschen Historikern kritisiert worden ist.