Die Politik gegenüber religiösen Organisationen unterlag in der UdSSR mit Beginn der 1960er Jahre wesentlichen Veränderungen. Der Staat gestand der Mehrheit von ihnen - soweit sie zur öffentlichen Bekundung ihrer Loyalität bereit waren - das Recht auf eine besondere Rolle in der Gesellschaft zu. Unter Leonid Breschnew wurde von dem Plan Chruschtschows Abstand genommen, in kürzester Zeit eine kommunistische Gesellschaft aufzubauen. Im Zuge dessen wurde für die Mehrheit der religiösen Organisationen, besonders die Russische Orthodoxe Kirche, der Zwang zur Anpassung an das sowjetische Regime abgeschafft. Unter gelockerten Bedingungen erhielten nun diejenigen Kirchen, die sich parteikonform verhielten, in begrenztem Maße Entfaltungsmöglichkeiten. Jedoch wählten bei weitem nicht alle religiösen Organisationen den Weg des Kompromisses mit der Sowjetmacht. Besonders Protestanten und die Mehrheit religiöser Organisationen der Russlanddeutschen waren nicht bereit, sich mit der Nische zufriedenzugeben, die ihnen der Staat zuwies. Sie kämpften hartnäckig für ihre Rechte. Während der Staat die zahlenmäßig schwächere Bewegung „weltlicher“ Dissidenten verhältnismäßig leicht „politisch neutralisieren“ konnte, gelang es ihm bis zum Zerfall der Sowjetunion nicht, die große Zahl religiöser Dissidenten zur Loyalität zu zwingen.
In seinem Beitrag „Die russlanddeutschen Protestanten in der Sowjetunion zwischen Anpassung und Widerstand (1960er - 1980er Jahre)“ geht Victor Dönninghaus der Frage nach, wie es zu Beginn der Regierungszeit Breschnews zu einer Liberalisierung der Kirchenpolitik kam und warum es gerade die religiösen Gemeinden der Russlanddeutschen waren, die im Konflikt zwischen Staat und Gläubigen an vorderster Front standen. Dabei wird aufgezeigt, dass der Protest der sogenannten ,Initiativler' in erster Linie religiös motiviert war, allerdings ebenso eine Form des politischen Widerstands, der das Ziel verfolgte, eine eigene Zugehörigkeit zu wahren. Die Studie ist Teil der Publikation „Diktatur - Mensch – System. Russlanddeutsche Erfahrung und Erinnerung“, die von Kornelius Ens, Jannis Panagiotidis und Hans-Christian Petersen herausgegeben wurde.